Gino Romero Ramirez bringt Schulkindern das Geigespielen bei. Eine Geschichte, die fast zu schön ist, um wahr zu sein – und die man ab Januar sogar im Kino sehen kann.
(aus Hinz&Kunzt 227/Januar 2012)
Es herrscht das totale Durcheinander. Vierzig Kinder wuseln lärmend durch die Aula der Altonaer Louise-Schroeder-Schule. Alle haben eine Geige unter dem Arm, aber es ist kaum vorstellbar, wie diese hüpfende, plappernde Rasselbande gemeinsam Musik machen soll. Doch dann geschieht etwas Erstaunliches: Gino Romero Ramirez klatscht in die Hände und setzt sich an den Flügel. Der 50-Jährige spielt einen Akkord, und plötzlich stellen sich die Kinder ordentlich nebeneinander auf. Ein zweiter Akkord, und vierzig kleine Köpfe neigen sich zu einer artigen Verbeugung. Ein dritter Akkord, und schon ist der Raum von einer vielstimmigen, melancholischen Melodie erfüllt. Eine Mutter im Publikum kann kaum glauben, was sie da sieht. „Allein diese ganzen Kinder überhaupt zum Stillstehen zu bringen“, sagt sie, „das ist schon eine Leistung.“
Die gelungene Aufführung in der Aula ist nur ein kleiner Teil der Geschichte von Gino Romero Ramirez und seinen Geigenschülern. Es ist eine Geschichte, die von Musik, Begeisterung, Kindern aus Problemvierteln und einer besonderen Unterrichtsmethode handelt. Und wie alle guten Geschichten beginnt sie mit Zufällen.
Gino Romero Ramirez istin einer eher unmusikalischen Familie in Kolumbien aufgewachsen. Dass er zur Musik kam, war „reiner Zufall“, wie er selber sagt. Schon als Kind singt er gerne, dann probiert er eine alte Blockflöte aus, die er zu Hause findet – und wünscht sich eine richtige Querflöte. „Mein Vater hat mir dann eine Geige mitgebracht, weil die billiger war“, sagt Ramirez. Er beginnt auf eigene Faust, sich mit dem Instrument vertraut zu machen, und bald wird ihm klar, dass er sein Leben der Musik widmen will. Nach der Schule beginnt Ramirez daher ein Kompositions-Studium in der Hauptstadt Bogotá, nebenbei leitet er ein Kinderorchester. Er will Dirigent werden, sieht aber in Kolumbien für sich keine berufliche Zukunft. Dass er 1982, mit 21 Jahren, mit einem Schiff nach Hamburg kam, war wieder Zufall: „Mein Vater war Seemann, und einmal im Jahr durfte er mich kostenlos in irgendeine Hafenstadt mitnehmen.“
In Hamburg angekommen, habe er sich erst einmal an die Kälte gewöhnen müssen, sagt Ramirez. „Aber die Stadt mochte ich sofort.“ Er beendet sein Studium am Konservatorium und an der Musikhochschule und schlägt sich als Musiklehrer durch. 1997 beginnt er an der Louise-Schroeder-Schule zu unterrichten, er leitet den Schulchor und übt mit Erstklässlern Trommeln. Seit 2000 macht er dasselbe an der Ganztagsschule St. Pauli. „Und dann habe ich gesagt: Lass uns doch mal mit einer ganzen Klasse Geigenunterricht versuchen“, erzählt Ramirez. Zuerst ist es schwer, Lehrer und Schulleiter zu überzeugen. Die ersten Instrumente und das Geld für Ramirez’ Honorare müssen über Stiftungen und private Spender finanziert werden. Doch der Erfolg gibt ihm schnell Recht: Die Zahl der Schulklassen, denen er einmal die Woche Geigenunterricht gibt, wächst rasant, Kinder und Eltern sind begeistert. Heute sind es 220 Kinder, die bei Ramirez Geige spielen lernen.
Warum Ramirez’ Unterricht so gutfunktioniert, weiß Elyesa Nas. Der Elfjährige geht auf das Gymnasium Klosterschule und war früher auf der Ganztagsschule St. Pauli. „In der zweiten Klasse hat’s angefangen“, sagt er. „Da kam Gino.“ Das hört man von fast allen Kindern, wenn man sie fragt, warum sie mit der Geige begonnen haben: Gino. Denn viele von Ramirez’ Schülern kommen aus ärmeren Familien, viele haben einen Migrationshintergrund. Ohne Ramirez hätten die meisten nie eine Geige in die Hand genommen. Auch bei Elyesa war Ramirez der Grund, warum er so schnell Feuer gefangen hat. „Gino macht das auf eine ganz besondere Art“, sagt er. „Er ist freundlich und sehr geduldig.“ Außerdem gefalle ihm, dass man ständig neue Stücke lerne, „mal schnelle, mal langsame“. Da werde es nie langweilig.
Jedes Kind wird mit einer Umarmung begrüßt, und es wird viel gelacht.
Sofort richtige Lieder spielen, frühe Erfolgserlebnisse, das sind wichtige Eckpunkte von Ramirez’ Unterricht. Er lehrt nach der Suzuki-Methode, benannt nach dem dem japanischen Geigenlehrer Suzuki Shin’ichi. Die Freude an der Musik und das Spielen in der Gruppe stehen dabei im Vordergrund. „Die Kinder lernen Geige wie ihre Muttersprache“, erklärt Ramirez. Zuerst lernt man Stücke auswendig, übt sie immer wieder. Noten kommen später. „Wenn man schnell ein Lied spielen kann, wird man gepackt“, sagt Ramirez.
Zur Suzuki-Methode gehört auch, dass die Eltern ihre Kinder zu Hause unterstützen. „Das hat bei vielen Familien zuerst nicht so geklappt“, sagt Ramirez. „Aber das ist ja auch nicht einfach mit dem Üben, wenn die kleine Schwester schlafen soll oder der Vater Schichtdienst hat.“ Zu Anfang sei auch der Umgang mit den Kindern nicht einfach gewesen. „Die waren einfach frech“, sagt Ramirez, und dann schmunzelt er. „Aber ich habe über die Jahre Tricks gelernt, sie zu kriegen.“
Mit dem Geigenunterricht beginnt Ramirez in der zweiten Klasse, die Kinder lernen dann drei Jahre lang mit der ganzen Klasse. Die positiven Wirkungen sind vielfältig: Das Musizieren ist gut für die Konzentrationsfähigkeit, für die Ausdauer, für den Teamgeist. Wer nach der vierten Klasse weitermachen will, kann sich Ramirez’ Fortgeschrittenen-Klasse beim Verein „Musica Altona“ anschließen. Und viele machen weiter. Wer Ramirez mit seinen Schülern zusieht, weiß warum: Jedes Kind wird mit einer Umarmung begrüßt, Ramirez nimmt sich für alle Zeit, er lacht viel, man spürt seine Freude an der Musik. „Die Kinder bekommen durch ihn einen spielerischen Zugang zur Musik“, sagt Sabine Ahrens, die stellvertretende Schulleiterin der Louise-Schroeder-Schule. „Sie machen was gemeinsam, sie treten auf – das ist auch gut für ihr Selbstbewusstsein.“
Nicht nur bei den Kindern, auch in der Louise-Schroeder-Schule sind Ramirez und sein Geigenunterricht daher nicht mehr wegzudenken. „Gemeinsam zu musizieren belebt die Schule“, sagt Ahrens. „Gino wird hier von allen getragen, von den Eltern, den Kindern, dem Stadtteil.“ Entsprechend groß war das Entsetzen, als Ramirez 2010 ein Jobangebot aus Berlin bekam. Bis dahin hatte er auf Honorarbasis gearbeitet und für viel Arbeit wenig verdient. „Irgendwann war ich ein bisschen frustriert“, erzählt er. „Eine Midlife-Crisis, wie man das so nennt.“ Sofort wandten sich Lehrer und Eltern an die zuständigen Behörden. Sabine Ahrens erzählt: „Wir haben gesagt, er ist nicht nur ein hervorragender Lehrer, sondern auch so ein warmherziger Mensch. Und den lasst ihr einfach gehen?“ Letztlich fand sich eine Lösung: Ramirez wurde an der Louise-Schroeder-Schule fest angestellt, die Geigen werden jetzt nicht mehr mit Spenden, sondern über das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ bezahlt. Auch wenn Ramirez deswegen jetzt keine Zeit mehr für die Ganztagsschule St. Pauli hat: Viele der Kinder, die dort mit dem Geigen angefangen haben, machen bei „Musica Altona“ weiter.
Die Geigen-Erfolgsgeschichte aus St. Pauli und Altona-Alstadt dürfte in den nächsten Wochen in Hamburg noch weitere Kreise ziehen: Die Filmemacherinnen Alexandra Gramatke und Barbara Metzlaff haben Ramirez und seine Schüler drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Daraus ist der Film „20 Geigen auf St. Pauli“ entstanden. Ein bisschen komisch sei es schon, sich auf der Leinwand zu sehen, sagt Ramirez. „Aber ich kann noch einmal sehen, welche Entwicklung die Kinder gemacht haben.“ Und dann muss er dringend wieder an die Arbeit: Geigen stimmen, bei den Kindern für Ruhe sorgen, weiter üben. Er wird schon erwartet. Laut und vielstimmig tönt es durch den Raum: „Gino!“
Der Film „20 Geigen auf St. Pauli“ feiert am 15. Januar um 17 Uhr Premiere im Abaton-Kino. Ab 19. Januar läuft er dort regelmäßig,
außerdem in den Zeise-Kinos. Weitere Infos unter www.diethede.de
Text: Hanning Voigts
Fotos: DmitrijLeltschuk