(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)
Das Zuhause vonHinz &Kunzt-Autor Christoph Jantzen liegt direkt an den Gleisen von S- und Fernbahn. Besser kann man nicht wohnen, findet er.
Bei euch ist es aber laut“, sagen Freunde, wenn wir sie auf unseren Lieblingsplatz führen, die Dachterrasse. Sie meinen Deutsche Bahn und HVV. Intercitys, ICEs, Metropolitans, Autoreise-züge, Interregios, Regionalbahnen, Güterzüge und S31, S21, S11 passieren unsere Wohnung in der Oelkersallee auf Augenhöhe. Unsere famose Aussicht auf Fernsehturm, Iduna-Hochhaus und St. Johannis-Kirche nimmt niemand wahr. Zwischen Hauptbahnhof und Altona pocht die Aorta der staatlichen Carrier.
Als wir einzogen, strichen Maler unsere niedrigen Wände. Als die beiden Jungs sich mit Thermos-kanne und Stullen zum Frühstück auf den bemoosten Planken unserer Dachterrasse niederließen, sagte der eine: „Mein Gott ist das hier laut, da kann man ja nicht mal seine BILD-Zeitung lesen.“ Wir sehen es anders.
Auch früher, als meine Freundin Tina und ihr neunjähriger Sohn Ole noch in Stralsund lebten, konnte ich aus dem Zug in die Küche gucken. Wenn sie am Fenster standen und winkten, fühlte ich mich freudig erwartet.
Unsere Freundin Sylvia lebt in Lüneburg neben Lünebest, und jeder Intercity, der ungebremst durch die Stadt jagt, kräuselt die Wasseroberfläche im Planschbecken ihrer Kinder, die sich die Handteller gegen die Ohren stemmen. Wir haben etwas mehr Abstand: Die Max-Brauer-Allee und das Außenlager von Autohaus Bluhm trennen uns von der Trasse. Bluhms Spezialität ist der Handel mit Kleintrans-portern, deren sich ständig ändernde Ausrichtung wir von unserer Dachterrasse aus mit Interesse verfolgen. „Die fünf alten Krankenwagen standen doch gestern noch hier vorne neben den Ford Transits.“
Neu ist die extrem hohe Frequenz. Selten sehen wir einen einsamen Zug vorbeifahren. Meist kreuzen sie sich im Minutentakt am Nadelöhr Sternbrücke, die über die Schnittstelle von Stresemannstraße und Max-Brauer-Allee führt. S-Bahnen müssen häufig warten, und wir können Blickkontakt zu den Passagieren aufnehmen. „Eure neuen Terrassenstühle habe ich schon gesehen“, sagt Rita, die uns beneidet, weil die Vorhänge bei uns noch zugezogen sind, wenn sie frühmorgens mit der S21 zur Arbeit fährt.
Ole hat schon in Stralsund jede Regionalbahn aus Velgast und Ribnitz-Damgarten von Küche und Klo aus ehrgeizig wahrgenommen: „Den habe ich zuerst gesehen!“ Nun muss er sich auf Highlights beschrän-ken. Den schicken Nachtzug nach Basel, die eleganten Metropolitans auf dem Weg nach Köln oder – unsere gemeinsamen Favoriten – die Autoreisezüge gen Narbonne. Sie unterscheiden sich von den nächt-lichen Zügen mit den Volkswagen-Lieferungen aus Wolfsburg, weil die üblichen Erschütterungen bei mindestens vier Limousinen die blinkenden und aussichtslos nach Hilfe schreienden Alarmsysteme auslösen.
Wenn Ole aufgeregt ruft: „Das ist der Schlafwagen nach Rom“, wissen wir: „Um 20.31 Uhr solltest du doch längst im Bett liegen, schlaf jetzt endlich!“
An Sommerabenden auf der Dachterrasse ist das Gespräch mit Freunden häufig schwierig. Mitten im Gespräch halten sie inne, setzen ihren Redefluss scheinbar unvermittelt wieder fort. Wir verstehen das nicht. Man kann doch lauter sprechen, kurz mal schreien.
Wir bemerken die Züge kaum. „Hier ist doch schon ewig keiner mehr gefahren“, sagt Tina manchmal nach Stunden, wenn wir uns nächtens angeregt draußen unterhalten. „Nö“, stimme ich zu, und schon wirft sich der nächste Güterzug kreischend in die Rechtskurve Richtung Altona. Man kann die Bahn ausblenden. Sie hupt nicht, lässt die Maschinen nicht angeberisch aufheulen, fährt nicht mit quietschenden Rädern an. Sie rollt gemächlich heran, ist da und entschwindet behutsam.
Früher, als ich ein paar hundert Meter entfernt in der Schanzenstraße lebte, waren die Autos die Hölle. Nervöse Maßregelungen vor der Spur der Rechtsabbieger, Parkplatzkämpfe, Lkw mit dröhnenden Kühlaggregaten auf dem Weg zum Schlachthof, Cabrios mit weit aufgedreh-ten Musikanlagen. Einzig ruhiger Platz in der Wohnung war die Küche in Richtung Hinterhof. Bei offenem Fenster fragte ich Tina: „Klingt es hier nicht manchmal, als säßen wir in Spanien am Meer, hörst du nicht auch die Brandung?“ „Quatsch, das ist die S21.“
Meine Schwester, die selbst jahrelang durch Einfachverglasung auf den Görlitzer Bahnhof blickte, wusste gleich, was sie uns zum Einzug schenken konnte. Nachdem sie die Wohnung gesehen hatte, lag einige Tage später eine Videokassette im Briefkasten: „Zugvögel – einmal nach Inari.“ Darin reist Joachim Król als skurriler Fahrplanexperte nach Nordfinnland, wo dem Gewinner des 1. Internationalen Kursbuch-Wettbewerbs 25.000 Pfund winken. Einen Tipp hatte sie auch parat: „Stellt euch einen Springbrunnen aufs Dach, das harmonisiert die Außengeräusche.“
Das Leben an der Trasse ist spannend. „Ihr habt fünf Tage Ruhe“, weissagte Yvonne mitfühlend. „Zwischen Dammtor und Altona wird an den Gleisen gearbeitet. Die ganze Strecke ist gesperrt. Es fahren nur Busse als Schienenersatzverkehr.“ Am Abend bildeten dutzende Gleisarbeiter in reflektierenden orangen Overalls die Vorhut, Flutlicht erhellte unseren Blick auf Butzek-Automobile, Shell-Tanke und Antik-Möbel-Speicher.
Gelbe Schienengefährte in Gestalt mächtiger Heuschrecken krochen heran, Scharen behelmter Arbeiter flexten und trieben mit Pressluft Nuten in die Schwellen – die grell erleuchtete Szenerie ließ uns die Tageszeit vergessen. Spät erst gingen wir ins Bett. „Schön, dass wir schon Feierabend haben.“ Ruhigen Schlaf fanden wir jedoch erst vier Tage später, als die Bahnen wieder rollten.
Bevor wir ins Bett gehen, achte ich sorgsam darauf, dass der rechte Zipfel der Gardine nicht auf dem Boden, sondern auf dem Schreibtisch liegt. Durch die offene Luke können wir morgens, wenn wir aufwa-chen, gleich die Züge vorbei gleiten sehen. „Ich finde das urban“, sagt Tina.