Häufig kritisieren wir die Unterkünfte von fördern und wohnen (f&w): zu wenig Einzelzimmer, die Männer sind sich selbst überlassen, von Sozialarbeit oft keine Spur. Männerunterkünfte sind oft trostlose Orte. Aber es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel am Billbrookdeich.
Rocky geht es gar nicht gut. Der 15-jährige Husky ist altersschwach und schleicht nur so herum. Herrchen Werner Glissmann ist besorgt. „Er ist doch einer meiner besten Mitarbeiter“, sagt der Leiter der Männerunterkunft Billbrookdeich. Das mit „einer meiner besten Mitarbeiter“ ist fast ernst gemeint. Denn bei Lichte betrachtet ist Glissmann als Sozialmanager die einzige Vollzeit-Fachkraft im Haus. Zur Seite stehen ihm eine Teilzeit-Sozialarbeiterin für Einzelfälle, zwei Reinigungskräfte, ein Hausmeister, ein Gehilfe des Hausmeisters und eine Verwaltungskraft. Er macht das beste draus: Der Billbrookdeich sieht aus wie eine grüne Insel mitten im Gewerbegebiet; draußen mit Fahrradhäuschen, Carports, Steingarten, Grillplatz – sogar die Mülltonnen sind bepflanzt.
Alles selbst gemacht, sagt Werner Glissmann, „und zwar in Zusammenarbeit mit meinen Mitarbeitern und den Bewohner“. Insgesamt 124 Männer leben hier in 28 Einzel- und 45 Doppelzimmern. „Wir bräuchten viel mehr Einzelzimmer“, sagt Glissmann. Er ist überzeugt davon, dass viele Bewohner dann schneller wieder auf die Füße kämen. „Viele arbeiten oder machen eine Ausbildung, und brechen nur ab, weil sie sich nicht erholen können.“
Dass ausgerechnet dieses Haus einmal eine Vorzeigeunterkunft werden würde, hätte wohl niemand erwartet. Bevor Werner Glissmann dazugeholt wurde, 2007, überlegte der städtische Betreiber fördern und wohnen, das Haus zu schließen. Ständig gab es Polizeieinsätze. In der Unterkunft regierte die Angst. Ein paar Bewohner hielten ihre Kollegen in Schach, es gab Prügeleien und Erpressungen, auch die Mitarbeiter wurden bedroht. Die Mitarbeiter verschanzten sich regelrecht in ihren Zimmern. Ein unhaltbarer Zustand. Ein befreundeter Sozialarbeiter, der den Kampf aufnehmen und der Unterkunft noch eine Chance geben wollte, fragte eines Tages Werner Glissmann, ob er den Job nicht zusammen mit ihm machen wollte. Glissmann, zu der Zeit in einer anderen Unterkunft tätig, wollte sich „das mal durch den Kopf gehen lassen“. Aber bevor er noch richtig zum Nachdenken kam, wurde er schon zum Unterkunftsleiter bestellt. Seine Chefs wussten wohl, dass er die Idealbesetzung ist. Gelernter Maschinenschlosser ist der 56-Jährige, „der schon in jedem Bereich gearbeitet hat“, eine kaufmännische Ausbildung hat er absolviert, „an der Abendschule“. Zehn Jahre war er selbstständig und Geschäftsführer, dann kam er zu fördern und wohnen und sattelte eine Ausbildung zum Sozialmanager obendrauf. Außerdem ist er mit einer Energie ausgestattet, die es ihm unmöglich macht, „länger am Schreibtisch zu sitzen und Mickymaushefte zu lesen“.
„Drei Pluspunkte bekommt jeder von mir, Vorschussvertrauen“
Die erste Zeit war aber auch für ihn hart. Er öffnete die Türen und führte erst mal Einzelgespräche mit den Bewohnern. Auch mit denen, die er als aggressiv einstufte – einen Baseballschläger und ein Pfefferspray hatte er „für Notfälle!“ immer griffbereit. Gebraucht hat er’s nie. „Drei Pluspunkte bekommt jeder von mir, Vorschussvertrauen sozusagen, wer die verspielt hat, ist draußen“, das machte er unmissverständlich deutlich. Und da ist er bis heute konsequent. „Wir müssen ja eigentlich jeden aufnehmen“, sagt er, „aber wenn es trotz mehrfacher Aufforderungen nicht klappt, dann muss derjenige gehen.“ Mit Kollegen hat er eine Art Tauschverfahren: Nimmst du einen, der bei mir nicht haltbar ist, nehme ich demnächst einen, der bei dir nicht haltbar ist. „Das wirkt“, davon ist Glissmann überzeugt, „und so hat jeder eine Chance, woanders noch einmal neu anzufangen.“
Vor allem die Wirkung nach innen war enorm. Die Bewohner trauten sich wieder nach draußen. Und Glissmann hatte jede Menge Pläne: die Duschen beispielsweise waren nicht abschließbar. Sein Ziel war es, dass die Männer wenigstens dort eine Intimsphäre haben sollten. Der Eingang sollte verschönert werden, mit Bildern beispielsweise, eine Grillecke sollte eingerichtet werden. Weil der Billbrookdeich so weit vom Schuss ist, sollten Fahrräder angeschafft und repariert werden, ein Garten wäre schön …
Das Haus ist inzwischen nicht mehr wiederzuerkennen. Überall hängen Vorher-Nachher-Fotos – und vor allem Bilder, auf denen Glissmann im Unterhemd, verschwitzt, zusammen mit den Bewohnern Hand anlegt. Da wurden aus anderen Einrichtungen Zwischenwände abgebaut und im Haus wieder aufgebaut, aus ehemaligen ausrangierten Eisen-Bettgestellen werden die Wände fürs Fahrradhäuschen gebaut, da werden riesige Holzträger von zig Männern geschleppt – und da sitzt dann die Einsatztruppe fröhlich und abgekämpft beim gemeinsamen Essen im Restaurant.
Bei den Bewohnern hat sich viel verändert
Im Haus ziehen alle an einem Strang, sagt Glissmann, und bräuchte das gar nicht zu betonen. Glissmann pflegt die Kontakte. Jeden Morgen trinkt er mit seinen Mitarbeitern einen Kaffee, bespricht den Tag. Wie geschleckt sieht es im ganzen Haus aus: Das Werk von Memlika Gürsoy und Gülüstan Yaman, den beiden Reinigungskräfte. „Die beiden tragen wir auf Händen“, sagt Glissmann. Natürlich sind sie, wie eigentlich jeder, den er erwähnt, „die wichtigsten Mitarbeiter“.
Nachmittags dann noch ein Kaffeetrinken mit den Bewohnern im Gruppenraum. Da erfährt er dann auch im lockeren Gespräch, was bei dem einen oder anderen so anliegt.
Auch bei den Bewohnern hat sich vieles verändert. Sie sind stolz auf ihre Einrichtung. So sauber und wohnlich ist es hier, dass sie sich nicht schämen müssen, mal die Familie mitzubringen. Und sie haben gemeinsam einen Gruppenraum ausgebaut; dort sieht es übrigens aus wie in einem St.-Pauli-Vereinsheim. Und wenn einer Geburtstag hat, dann wird auch ordentlich gefeiert, auf dem Grillplatz unter einem Carport-Dach, selbstredend auch Marke Eigenbau.
Jetzt könnte man einwenden: Alles schön und gut, aber wollen die Wohnungslosen denn überhaupt noch eine eigene Wohnung, wenn man es ihnen so nett macht? Glissmann würde gerne mit seinen Erfolgen aufwarten. Aber er darf keine Zahlen nennen. Denn – und das ist wirklich unglaublich! – eine Auszugsstatistik führt f&w nicht. Eine Qualitätskontrolle ist also unmöglich. Begründung: „nicht zuständig!“ Und das stimmt sogar: Die Unternehmensziele von f&w lauten ausschließlich: Unterbringung der Wohnungslosen und Wahrung des sozialen Friedens.
Für die Vermittlung in Wohnungen sind seit 2005 ausschließlich die bezirklichen Fachstellen zuständig. Aber – man kann es sich vorstellen – die Zusammenarbeit läuft holprig. Denn die Fachstellen kennen ihre Wohnungslosen nicht so gut wie die Mitarbeiter der Wohnunterkünfte. Deshalb läuft es oft so ab: Eine Fachstelle hat eine Wohnung zu vermieten und schreibt einen Wohnungslosen in einer Unterkunft an. Die meisten Bewohner haben ein Postfach in ihren Unterkünften, aber ob sie der Brief erreicht oder nicht, darum kümmert man sich nicht unbedingt. „Dafür sind wir nicht zuständig“, so die pampige Antwort in einer anderen Unterkunft.
Fakt ist: Offensichtlich bleibt es jeder Unterkunft selbst überlassen, inwieweit sie aktiv wird und den Kontakt mit den Fachstellen pflegt. Bei der dünnen Personaldecke mag man das dem einzelnen Mitarbeiter vielleicht verzeihen, aber man muss sich dann auch nicht wundern, wenn die Vermittlung schleppend läuft.
Übrigens findet auch Werner Glissmann, dass es viel zu wenig Personal gibt. Obwohl er wirkt, als strotze er vor Energie und Kraft, räumt er ein: „Ich bin am Rande meiner Kapazitäten.“ Aber er findet eben: Die Arbeit muss gut gemacht werden. Und: „Geht nicht, gibt’s nicht!“
Wohnungsangebote auf persönlichen Weg
Man ahnt es schon:Im Billbrookdeich ist der Kontakt zu den Fachstellen eng. Einmal im Monat kommen Mitarbeiter der Fachstelle ins Haus, die Bewohner sitzen dann schon im Warteraum. Wohnungsangebote werden auch nicht mehr postalisch und an den Bewohner geschickt, sondern per Fax an den Chef. „Wir bringen das Wohnungsangebot persönlich zu dem Bewohner.“ Falls der Unterstützung braucht oder dann irgendwohin gefahren werden muss, dann macht das zur Not Unterkunftsleiter Glissmann persönlich.
Der Billbrookdeich ist eine Erfolgsgeschichte, ganz klar. Das nützt allerdings dem Neuankömmling, der erst auf der Straße und dann in einem Männerwohnheim landet, nichts. Der erlebt gerade einen Tiefpunkt.
Da kommt Rocky, der Husky, wieder ins Spiel. Und seine „Kollegen“, die Fische in den Aquarien. „Wer neu ist, den setze ich erst mal in die kleine Wartezone“, sagt Werner Glissmann. Da schaut der Neue zu, wie die Fische ruhig ihre Bahnen schwimmen „und Rocky legt ihm noch die Schnauze aufs Knie und schaut ihn treuherzig an“. Die meisten, so die Erfahrung von Werner Glissmann, „beruhigen sich dann etwas – und die Fische oder Rocky sind auf jeden Fall schon ein guter Gesprächsstoff für den Einstieg“.
Text: Birgit Müller