Sie sind gekommen, um zu bleiben: die 15 Bewohner des Bauwagenplatzes „Zomia“ in Wilhelmsburg. Sie finden, dass die Stadt groß genug ist für unterschiedliche Wohnformen.
(aus Hinz&Kunzt 224/Oktober 2011)
Wenn Emu umziehen will, dreht er nur den Schlüssel rum. Tritt die Kupplung, schaltet langsam in den ersten Gang und schaut erst in den Rück-, dann in den Seitenspiegel, ob ein anderes Auto kommt und ob er losfahren kann. Doch das will er in nächster Zeit unbedingt vermeiden: wieder losfahren zu müssen, um irgendwo am Straßenrand zu stehen, auf irgendeinem Parkplatz, misstrauisch beobachtet von den Anwohnern, manchmal auch geduldet; stets gezwungen, wieder aufzubrechen, umzuziehen. Denn Emu ist einer von15 Bauwagenbewohnern auf dem Wagenplatz Zomia, inmitten eines Waldstückes in Wilhelmsburg, nördlich vom Ernst-August-Kanal, am Rande eines Industrieareals. „Emu – wie dieser Laufvogel, den es nur in Australien gibt“, erklärt Emu – der Nachname sei nicht so wichtig. Und der studierte Botaniker erzählt lieber davon, wie er es genießt, gleichzeitig für sich und unabhängig zu sein – und doch in einer Gruppe zu leben: „Wir sind wie eine Wohngemeinschaft, nur dass jeder nicht nur sein eigenes Zimmer hat.“
Er zeigt auf sein Gefährt, einer dieser typischen, braunen Lieferwagen des Paketzulieferers UPS, aber noch das alte Modell mit runder Schnauze, statt mit eckiger wie die neueren Ausgaben. Gleich dahinter erstrecken sich wilde Hagebuttensträucher, Büschel mit falscher Kamille und jede Menge Birken unterschiedlichster Größe. Ein paar Schritte nur und man ist verschwunden im Dickicht, in dem es Fasane gibt und Nachtigallen, vielleicht auch Marder und bestimmt Fledermäuse, während gleichzeitig sich der Lärm aus den nahe gelegenen Hafenanlagen und der dichtbefahrenen Harburger Chaussee über die Szenerie legt. „Ein Idyll“, sagt Emu.
Auch Rick möchte es bei Rick belassen und seinen Nachnamen für sich behalten. Zuletzt hat er in einer Wohnung an einer lärmigen Hauptstraße gewohnt: „Wenn ich mich mal zurückziehen wollte, ging das nicht. Es war einfach zu laut.“ Das ist es nicht allein, warum er in einen ausrangierten Feuerwehrwagen gezogen ist: „Betonwände zwängen mich ein. Hier ist mein Wohnzimmer – hier draußen.“ Außerdem leitet ihn sein ökologisches Gewissen: „Wir leben in einer unglaublichen Fast-Food-Gesellschaft, wo wir nur nehmen, nehmen, nehmen. Hier muss ich mir mein Wasser holen und kann nicht einfach den Hahn aufdrehen. Bewusster mit Ressourcen umzugehen, das geht im Bauwagen sehr viel einfacher als in einer normalen Wohnung.“
Er reagiert etwas ungehalten auf die Frage, was er und die anderen beruflich machen: „Das klingt so nach: Geht ihr auch arbeiten?“ Nur so viel: „Manche studieren, andere gehen morgens ins Büro oder beziehen Hartz IV.“ Rick dreht sich eine Zigarette: „Wir sind ganz normale Leute.“ Etwas ist ihm noch wichtig: „Wir suchen hier nicht allein unser privates Glück. Wir möchten erreichen, das jeder in der Stadt seinen Platz findet – und dafür ist die Stadt groß genug.“ Und mitten in der Stadt will er leben und Emu sowieso: „Ich bin in Hamburg geboren, ich bin hier aufgewachsen, es ist meine Stadt!“
Finn, der gerade im Materialwagen schaut, welchen der dort abgestellten Öfen er reparieren könnte, um sich für den Winter zu wappnen, kennt die Reaktionen der Passanten, wenn sie auf Marktplätzen unterwegs sind, um für ihre Sache zu werben; wenn sie die Wilhelmsburger einladen, sich bei ihnen mal umzuschauen: „Dann schwärmen die Leute: ‚Ach, so im Bauwagen leben, mitten in der Natur, das muss schon schön sein.‘“ Also will er eines klarstellen: „Wir machen hier keinen Urlaub; wir campen hier nicht.“ Und er kennt auch das Argument derer, die ihnen nicht so wohlgesonnen sind: „Wenn das nun jeder machen würde! Dafür wäre in der Stadt nun mal kein Platz!“ Finn seufzt tief auf: „Als ob Zehntausende von Hamburgern bereit stünden, ihre Wohnungen zu kündigen und in den nächsten Bauwagen zu ziehen.“
Fünf Bauwagenplätze gibt es neben dem Zomia-Platz derzeit in Hamburg. Emu zählt auf: „Da ist die ‚Herlingsburg‘ in Lokstedt und der Platz in der Gaußstraße in Altona.“ Rick springt ein: „Es gibt die ‚Henriette‘ in Eimsbüttel und die ‚Hospi‘ in der Hospitalstraße, auch in Altona.“ – „Und es gibt noch den Wagenplatz am Rübenkamp“, übernimmt wieder Emu. Auf dem einen Platz sind sie nur zu zehnt, dann wieder sind sie bis zu 50 Bewohner. Und außerdem seien einige für sich unterwegs, ständen mal hier, mal dort an der Straße. Rechnet man all das sehr großzügig zusammen, kommt man auf vielleicht 500 Menschen, die im Stadtgebiet Hamburg in einem Bauwagen leben. Bei knapp 1,8 Millionen Einwohnern wären das gerade mal 0,028 Prozent.
Seit dem November 2010 sind sie hier – zunächst geduldet bis zum 30. April dieses Jahres vom Bezirksamt Hamburg Mitte, zu dem Wilhelmsburg gehört. Die Duldung wurde verlängert bis Mitte September. Zwischendurch wurden ihnen Ausweichquartiere angeboten: Einer wäre wenige Meter von einer Landebahn am Flughafen gewesen; ein weiterer sollte sich unter einer 380.000-Volt-Überlandleitung erstrecken. Bei einem dritten hätten sie ihre Wagen unter einer mehrspurigen Brücke abstellen dürfen.
Umgekehrt gibt es kein echtes Argument, warum sie nicht auf ihrem Platz bleiben könnten: Die städtische Fläche mit der amtlichen Flurnummer 8515 liegt derzeit brach. Wenn überhaupt, könnte hier eines Tages die Hafenquerspange verlaufen, die den Schwerverkehr aus dem Hafen durch den Süden Hamburgs Richtung Berlin und Richtung Skandinavien leiten soll – ein unter den Wilhelmsburger Bürgern höchst umstrittenes Projekt, das dazu als nicht finanzierbar gilt: Gerade hat der Bund eine Beteiligung an dem Straßengroßprojekt abgelehnt. Und selbst wenn sich das noch ändern sollte, dürfte es noch fünfzehn Jahre dauern, bis die Fläche benötigt werden könnte – mindestens.
Doch Bezirksamtsleiter Markus Schreiber und die ihn tragende SPD-Mehrheit in der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte lassen sich davon offensichtlich nicht erweichen: Der Platz soll jetzt „zeitnah“ aufgelöst werden, wie es im Politikerdeutsch in einem Beschluss der Bezirksversammlung Mitte heißt. Ein örtlicher SPD-Bezirksabgeordneter schlug sich gar heimlich durchs Unterholz, um neben dem Wagenplatz abgelegtes Bauholz und im Wald verstreuten Müll zu fotografieren und die Bilder ins Netz zu stellen: als Beweis, wie unordentlich und asozial sich die Bewohner verhalten würden. Dabei stehen längst drei Mülltonnen von der Stadtreinigung am Rande des Platzes und selbstverständlich wird auch hier der Müll getrennt wie überall sonst. Emu sagt: „Schreiber hat ja unter dem Senator Schill den Platz Bambule im Karolinenviertel räumen lassen – er will in seinem Bezirk einfach keine Bauwagen dulden.“ Dazu passt, dass keiner der Ausweichplätze, die ihnen angeboten wurden, im Bezirk Mitte ist.
Der Senat dagegen in Gestalt der Stadtentwicklungsbehörde drängt auf eine gütliche Einigung. Auch die GAL und die CDU in der Bezirksversammlung sind nicht an einer Eskalation der Situation interessiert. Die Bewohner wiederum möchten gerne zur Ruhe kommen; möchten weiter zusammenwachsen und möchten sich nur bedingt vergrößern: „Wir treffen alle Entscheidungen gemeinsam. Bei mehr als 20 Leuten wird es ja schon schwierig, einen Termin zu finden, wo alle zusammenkommen können.“ Und dann würden sie den Platz gerne mehr nutzen: Rick etwa würde gerne einen Garten anlegen – um sich mit möglichst viel eigenem Gemüse selbst zu versorgen. Und sie könnten endlich einen Holzbunker bauen, so Brennholz für den Winter sachgerecht lagern, dass es ordentlich abtrocknet, um die optimale Brennleistung zu erreichen. Der Platz wäre da – und auch der Elan, die Dinge in die Hand zu nehmen.
Text: Frank Keil
Foto: Kathrin Brunnhofer