Zum Doktor statt zum Dealer: In der Suchtambulanz Altona bekommen Abhängige nicht nur Drogenersatzstoffe wie Methadon, sondern auch reines Heroin. Das wirkt auf den ersten Blick befremdlich. Aber das Programm hilft den Süchtigen.
Kurz nach neun Uhr morgens. Vera* hat schon ihre erste Heroininjektion hinter sich. In der Suchtambulanz Altona, die aussieht wie eine ganz normale Arztpraxis, hat sich die 46-Jährige gerade unter ärztlicher Aufsicht die Droge gespritzt. Noch etwas benommen erzählt sie, warum es ihr besser geht, seit sie hier zweimal täglich ihren Stoff bekommt. „Es gibt wieder Stabilität in meinem Tagesablauf “, sagt sie. In den sechs Monaten, die sie hier behandelt wird, ist Vera zur Ruhe gekommen und hat sich mit Hilfe einer Sozialarbeiterin um dringend nötige Behördengänge gekümmert. „Dafür habe ich jetzt wieder Zeit“, sagt sie. „Früher musste ich immer entweder Geld beschaffen oder zu meinem Dealer rennen.“
Das Leben von Schwerstabhängigen, die mit anderen Therapien nicht zu erreichen sind, zu verbessern, indem man sie kontrolliert mit Heroin versorgt – die Idee gibt es bereits seit den 90er-Jahren. Wer weiß, woher er seine Droge bekommt, löst sich schneller aus der Drogenszene und findet eher die Energie, sein Leben zu überdenken. Außerdem fehlt der Druck, ständig Geld für die Sucht besorgen zu müssen – wozu viele Straftaten begehehn oder sich zwangsweise prostituieren. In der Schweiz wird dieses Modell schon seit 1994 angewendet.
Obwohl Suchtexperten die Methode befürworten, gab es in Deutschland lange Zeit Vorbehalte. Das änderte sich erst nach einer medizinischen Studie, die in den Jahren 2001 bis 2007 in Hamburg und sechs anderen Städten unternommen wurde. Das Ergebnis: Bei den meisten der Patienten verbesserte sich während der Studienphase die Gesundheit, ihre sozialen Kontakte nahmen zu, kaum jemand brach das Programm ab, einige fanden sogar wieder einen Job. Aufgrund dieser Erfolge wurde im Mai 2010 das Betäubungsmittelgesetz geändert, so dass Heroin jetzt unter strengen Auflagen als Medikament vergeben werden darf. Seit einem Jahr wird die Behandlung von den Krankenkassen bezahlt.
Karin Bonorden-Kleij hat täglich mit den Süchtigen in der Ambulanz Altona zu tun. Die Ärztin erklärt, warum die Heroinvergabe gerade den Schwerstabhängigen helfen kann, bei denen alle anderen Therapien – etwa mit der Ersatzdroge Methadon – erfolglos bleiben. „Der Vorteil ist, dass die Abhängigen genau den Kick und das Wärmegefühl bekommen, das sie brauchen“, sagte sie. „Methadon dämpft dagegen nur die Entzugserscheinungen. Deshalb trinken viele Süchtige nebenher oder nehmen Kokain – auf der vergeblichen Suche nach dem Kick.“
So war es auch bei Vera. Seit Anfang der 90er-Jahre nimmt sie Heroin, anfangs aus reiner Neugier. Bald war sie abhängig. „Das war wie ein automatisches Abschalten“, sagt sie. „Das Heroin hat mich entspannt und mir die innere Ruhe gegeben, die ich mir selbst nicht geben konnte.“ Immer wieder hat Vera, die trotz ihrer Sucht weiter einen Job als Sachbearbeiterin hatte, versucht, von der Droge loszukommen. Auch mit Methadon. „Das ging auch eine Zeit gut“, sagt sie. „Aber dann war da wieder dieser Drang.“ Erst seit sie die Herointherapie macht, geht es Vera besser. Vor allem muss sie kein Doppelleben mehr führen: auf der einen Seite die geregelte Arbeit, auf der anderen Geldbeschaffung und Drogenkonsum. „Das war wie ein Seiltanz“, sagt Vera. „Und ich habe mich immer gefragt, wann mein Leben kippt. Das ist jetzt weg.“
Rund 400 Menschen werden derzeit bundesweit mit reinem Heroin versorgt. In Hamburg sind es 63, obwohl es Kapazitäten für bis zu 100 Süchtige gibt. Dass sie bisher nicht mehr Patienten hat, erklärt Karin Bonorden-Kleij vor allem damit, dass sich das Angebot noch nicht genug in der Drogenszene herumgesprochen hat. „Viele Süchtige wissen nicht, dass unsere Studie abgeschlossen ist und wir jetzt neue Patienten aufnehmen können“, sagt sie. Sie hofft, dass in den nächsten Monaten weitere schwer Abhängige den Weg in die Ambulanz finden: „Der Bedarf ist da.“
Vera ist jetzt soweit, zur Arbeit zu gehen. Nach ihrer Injektion müssen alle Süchtigen noch eine Weile in der Ambulanz bleiben, bis klar ist, dass sie stabil sind und keine Gefahr im Straßenverkehr darstellen. Als sie geht, sagt Vera noch, dass sie vor Kurzem angefangen hat, sich ein Leben ganz ohne Drogen vorzustellen. „Ich denke das erste Mal wieder darüber nach, dass das möglich sein könnte.“
* Name und Beruf geändert
Text: Hanning Voigts
Fotos: Ambulanz Altona