Für diese Hinz&Kunzt-Ausgabe mussten unsere Verkäufer eng zusammenarbeiten – bei so vielen unterschiedlichen Charakteren war das nicht immer leicht. Bei einer abschließenden Paddeltour auf dem Osterbekkanal bis zum Stadtparksee hat die Gruppe bewiesen, dass sie zum Team geworden ist.
(aus Hinz&Kunzt 222/August 2011)
„Ich kann euch allen nur empfehlen, eure Schuhe ausziehen. Das ist viel angenehmer, falls man ins Wasser fällt.“ Torsten Meiners ist in seinem Element. Geschäftig läuft der 47-Jährige auf dem Bootssteg hin und her und verstaut Gepäck in wasserdichten Plastiksäcken. Diese Bootstour ist genau das Richtige für ihn: Torsten ist leidenschaftlicher Sportler, und er liebt es, wenn es etwas zu organisieren gibt. Deshalb war er heute auch als erster beim Bootsverleih und hat schon das Drachenkanu verschönert: Aus einem Sonnenschirmständer, einigen Holzlatten und Unmengen Llebeband hat er einen Mast gebastelt und daran ein Hinz&Kunzt- Banner befestigt. Stolz zupft Torsten das kleine Segel zurecht.
Die Paddeltour von Verkäufern und Hinz&Kunzt-Mitarbeitern im Osterbekkanal ist ein kleines Wagnis, genau wie die Arbeit an dieser Verkäuferausgabe. Im vergangenen halben Jahr, in dem an diesem Heft gewerkelt wurde, waren starke Nerven gefragt: Von der ersten Ideen-Sitzung bis zum fertigen Ergebnis mussten unsere Verkäufer lange Sitzungen durchhalten, gemeinsam Ideen entwickeln, mit Differenzen fertig werden. Das hat viel Spaß gemacht, aber es gab auch manchmal Krach, wenn die Vorstellungen zu weit auseinandergingen. Dann wurde hitzig diskutiert, geschmollt, sich gegenseitig ins Wort gefallen. Doch jetzt, wo gegen Ende der Arbeit am Heft alle bei Sonnenschein am Bootssteg stehen, wollen alle dasselbe: lospaddeln.
„Ach, ist das herrlich“, lacht Jan Sjoerds, als sich das große Kanu in Bewegung setzt und in den von Bäumen gesäumten Kanal einbiegt. Der 65-Jährige hat sich den Platz hinten am Steuerruder gesichert und gibt mit lauter Stimme den Takt vor. „Uuund eins!“, ruft er. „Uuund zwei! Und jetzt alle zusammen!“ Während alle sich bemühen, mit ihren Paddeln einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, blickt Jan sich zufrieden um. Er hat einen guten Tag erwischt. Gerade hat er erfahren, dass ihm ab sofort die Lawaetz-Stiftung bei der Wohnungssuche helfen wird. Für den Schauspieler, der seit fast zehn Jahren auf der Straße lebt, bedeutet das: End- lich kann er auf eine Wohnung hoffen. Jan ist ein freundlicher Mann, der gern und viel lacht. Harmonie ist ihm wichtig, auch an seinem Verkaufsplatz in Altona. „Beim Verkaufen habe ich viel Zeit zum Nachdenken“, sagt er. „Dabei habe ich verrückte Ideen für Drehbücher und Geschichten. Wenn ich wieder eine Wohnung habe, schreibe ich sie vielleicht einmal auf.“ Aber erst einmal muss Jan jetzt das Kanu auf Kurs halten. „Guckt mal, Kinder“, ruft er mit seinem holländischen Akzent, „wir sind mitten im sommer. Ihr müsst nicht nur rudern, ihr müsst das auch genießen! Habt ihr’s eilig, oder was?“ Doch keiner hört auf ihn, alle rudern konzentriert. Außer dem Platschen der Paddel und dem Schnattern der Enten ist eine Weile nichts zu hören.
Plötzlich durchbricht ein Seemanns-Lied die Stille. „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord“, schmettert Gerhard Kemme mit mächtigem Bass. Im Kanu wird gestaunt: Niemand wusste, dass der 62-Jährige so gut singen kann. „Das gehörte bei uns noch zur Schulbildung“, sagt er und erzählt, dass ihn diese Tour sowieso an seine Jugend erinnert. Er ist auf der Veddel aufge- wachsen, in seine Schulklasse gingen auch Kinder aus den Flussschiffer-Familien. „Nach der Schule bin ich oft in deren kleinen Beibooten mitgefahren“, erzählt Gerhard. „die hatten allerdings keine Paddel, sondern Wriggen. So große Ruder, die man am heck des Bootes immer hin- und herbewegt.“ Eigentlich wollte Gerhard, der sich schon als kleines Kind für Elektrotechnik interessiert hat, Schiffsfunker werden: „Das wäre mein Traumberuf gewesen.“ Stattdessen lernt er Elektromechaniker, ist dann jahrelang Zeitsoldat, bis er sein Abitur nachholt und auf Berufsschullehrer umsattelt. Mitte der 90er-Jahre – Gerhard arbeitet gerade als selbständiger Nachhilfelehrer – gerät sein Leben aus den Fugen. Nach langen Streitereien zerbricht seine Ehe, Gerhard bekommt Geldprobleme und erkrankt an einer schweren Psychose. „Ich hab alles nicht mehr auf die Reihe bekommen“, sagt er. „Da war die straße die logische Konsequenz.“ Gerhard wird obdachlos, lebt lange zeit im Wald, beginnt dann eine Therapie. Noch heu-te interessiert sich der Hinz&Künztler für Technik und Physik. Und er schreibt skurrile Geschichten, die er 2009 im Selbstverlag veröffentlicht hat – unter dem Titel „Eine abgedrehte Schiebung am Rande der Galaxie“
Im Boot entsteht Unruhe. Fotograf Mauricio Bustamante will an einem kleinen Steg aussteigen, um das Kanu von oben zu fotografieren. Das Anlegen gestaltet sich wackeliger als gedacht, außerdem werden an Bord Rufe laut, bei der Gelegenheit auch gleich Torstens Mast und das Segel rauszuwerfen. „Das Ding versperrt mir schon die ganze Zeit die Sicht“, ruft Erich Heeder (58). Torsten ist geknickt. Er hat sich so viel Mühe mit dem Mast gegeben. Aber da die meisten im Boot den Mast ebenfalls loswerden wollen, legt Zorsten ihn zerknirscht auf den Steg. Und weiter geht es. Erich heeder rückt sich seine karierte Ballonmütze auf dem Kopf zurecht, mit der er immer ein wenig nach kreativem Eigenbrötler aussieht. In der tat ist der 58-Jährige echt eine Klasse für sich: Hinz&Künztler der ersten Stunde, Stadtteilaktivist und Maler in einer Person. Aufgewachsen in der Nähe von Hannover, bricht Erich wegen einer kaputten Wirbelsäule erst seine Lehre und dann den Wehrdienst ab. Er beginnt in Goslar eine Umschulung zum Schweißer und lernt seine große Liebe kennen. Die beiden heiraten, ziehen Mitte der 80er-Jahre nach Hamburg und bekommen eine Tochter. Sein Rücken macht Erich in der Folge immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Als er als Qualitätsprüfer in der Metallverarbeitung im Schichtdienst arbeitet, bricht er in der Firma zusammen. „Ich lag auf der Erde und habe meinen Unterkörper vom Bauch abwärts nicht mehr gespürt“, sagt Erich. Lange ist er krank. Während der zweiten Schwangerschaft seiner Frau wächst ihm dann alles über den Kopf: „Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Und zu hause auch noch alles machen.“ Diesem Druck hält die Ehe nicht stand. „Da war nichts mehr zu retten“, sagt Erich. Er verliert seine Frau, seine Kinder und seine Wohnung. Monatelang lebt er „öffentlich untergebracht“ in einem Hotel auf St. Pauli. Doch weil er nicht so einfach locker lässt, kämpft er trotzdem um das Recht, seine Kinder zu sehen. Jahrelang holte er sie immer wieder von ihrem 200 kilometer entfernten Wohnort nach Hamburg – bis ihm das Familiengericht mitteilt, dass seine Kinder nicht mehr wollen. Ohnmächtig bleibt Erich alleine zurück. Erst seit kurzem hat er über E-Mail wieder Kontakt mit seiner jüngsten Tochter. Allerdings wartet er oft sehr lange auf Antworten. „Das tut weh,“ sagt Erich. „Aber irgendwann musst du es akzeptieren, sonst gehst du kaputt.“
Das Kanu ist mittlerweile in denSstadtparksee eingebogen. Die Crew beschließt, am Ufer eine kleine Pause einzulegen. Paddeln macht hungrig. Jan beschwert sich scherzhaft über das Picknick aus Franzbrötchen, Laugenstangen und Apfelschorle. „Ein richtiges Büfett, garnierte Lachsbrötchen, das hätten wir ja wohl mindestens verdient“, sagt er mit vollem Mund. „Ich finde nämlich, die Geringsten sollten immer nur das Beste kriegen.“ Torsten macht derweil das Kanu flott zur Weiterfahrt. Die Pause dauert ihm zu lange. Sein Ehrgeiz und Perfektionismus machen Torsten zuverlässig, er rennt damit aber auch immer wieder gegen Mauern. Das war schon früher so: In der Armee der DDR wird Torsten, der in Lauchhammer bei Cottbus aufgewachsen ist, zwar Zwölfter bei den Landstreitkräfte-Meisterschaften im militärischen Dreikampf, bekommt aber auch oft Ärger mit seinen Vorgesetzten. „Ich hab mich oft gefragt, wofür wir dieses ganze Theater veranstalten“, erzählt Torsten. „Und dann das hierarchische Gehabe, und das in einer angeblich klassenlosen Gesellschaft.“ Zunehmend spürt Torsten die Widersprüche in der DDR: „Bis dahin, dass man sich demokratisch nennt, es aber faktisch nicht ist.“ Er verlässt die Armee und wird Hochseefischer, arbeitet vor den Küsten Schottlands, Uruguays und Mozambiques. Nach zwei Jahren, nur wenige Monate bevor die DDR zusammenbricht, kommt er zurück an Land. Torsten ist hautnah dabei, als in Leipzig eine Million Menschen demonstrieren. „Das waren dramatische Tage“, sagt er. „Und ich hatte die Hoffnung, dass auf dem Gebiet der DDR etwas neues entsteht.“Ddie schnelle Vereinigung mit der BRD findet Torsten bis heute falsch: „Das war die einfachste Lösung, aber sicher nicht die beste.“ Nach der wende kommt Torsten nach hamburg und verfällt der Spielsucht. Jetzt ist er seit sieben Jahren obdachlos, staatliche Hilfe und Hartz IV kommt für ihn trotzdem nicht in Frage. Dann wäre er ja abhängig, sagt Torsten: „Arm sein ist nicht so schlimm, solange ich einigermaßen selbstbestimmt leben kann.“ Inzwischen haben alle aufgegessen. das kanu schippert wieder los. Mittlerweile klappt das Paddeln besser, der Rhythmus ist gleichmäßiger geworden, die vielen Zwischenrufe sind verstummt. Das Team funktioniert. Am Ende der tour ist Gerhard völlig entspannt. Er lächelt selig. „Ohne Flachs: ich könnte stundenlang so weiterpaddeln.“
Text: Hanning Voigts
Mitarbeit: Thekla Ahrens, Sybille Arendt
Foto: Mauricio Bustamante