Die Sozialbehörde hat seit Jahresbeginn neu definiert, wer als Obdachloser gilt. Jan Sjoerds gehört nicht mehr dazu – obwohl er auf der Straße schläft. Sein „Problem“: Er hat eine Meldeadresse, an die er sich Post schicken lässt.
(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)
Jan Sjoerds braucht dringend eine Wohnung. Seit fast zehn Jahren lebt der 65-jährige Hinz&Künztler auf der Straße. Neulich hat er gehört: In Hamburg hält das Unternehmen Saga-GWG ein Kontingent von Wohnungen bereit, die nur an Obdachlose vergeben werden. Eine tolle Chance, von der Platte wegzukommen, denkt Jan.
Er bräuchte vom Amt eine Bestätigung, dass er auf so eine Wohnung ein Anrecht hat, quasi die Bestätigung, dass er obdachlos ist. „Dringlichkeitsbestätigung“ heißt das. Beim Amt für Wohnungsnotfälle in Altona trägt Jan sein Anliegen vor und bekommt ein Papier ausgestellt. Damit will er sich bei der Saga um eine solche Wohnung bewerben.
Er hat Glück: Gerade ist eine frei. Nur: Er bringt das falsche Papier. Er hat einen „Dringlichkeitsschein“, keine Dringlichkeitsbestätigung. Der Unterschied: Die Wohnung kann Jan nur mit der Bestätigung bekommen, mit dem Schein nicht.
„Ich habe mir gedacht“, sagt Jan, „mein Gott, wo ist denn da überhaupt der Unterschied?“ Trotzdem versucht er es noch einmal bei der Fachstelle. Die Sachbearbeiterin stellt ihm keine Bestätigung aus. Jan bittet Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler um Hilfe. Die hakt beim Amt nach. Eine Mitarbeiterin der Fachstelle erklärt: Menschen, die eine Meldeadresse haben, gelten seit Anfang des Jahres nicht mehr als obdachlos.
In der Tat ist Jan bei einer Bekannten behördlich gemeldet, dorthin lässt er sich seine Post schicken – auch Schreiben vom Amt, die ihn ohne Adresse kaum je erreichen könnten. Obdachlos ist Jan trotzdem: Schließlich schläft er ja auf der Straße.
Warum er trotzdem keine Chance auf eine Wohnung hat, die für Obdachlose reserviert ist, dafür bietet die Pressestelle des Bezirksamts Altona folgende Erklärung an: „Menschen in prekären, ungesicherten und häufig wechselnden Wohnsituationen (…) wurden aus dem Personenkreis der Anspruchsberechtigten für die Vermittlung von Wohnraum herausgenommen.“
So habe die Sozialbehörde die entsprechende Fachanweisung zum 1. Januar 2011 aktualisiert. Nachfrage bei der Behörde: Sprecherin Julia Seifert bestätigt, man habe „präzisiert“, wer in Bezug auf die Wohnungsvermittlung als obdachlos gelte.
„Menschen, die – egal über welchen Zeitraum – in einem Haushalt ‚mitwohnen‘ oder dort übernachten, werden nicht mehr als ‚obdachlos‘ betrachtet. Bei Menschen, die über eine gültige Meldeadresse verfügen, gehen die Fachstellen davon aus, dass sie unter dieser Adresse leben“, heißt es weiter in dem Schreiben.
Die Begründung: In der Vergangenheit seien Menschen, die bei Verwandten oder Bekannten untergekommen waren, öfter in Wohnraum vermittelt worden, als Obdachlose von der Straße oder aus Wohnunterkünften. Ende 2010 habe diese Gruppe 30 Prozent der von den Fachstellen vermittelten Wohnungen erhalten.
Es werde für die Fachstellen immer schwieriger zu entscheiden, wer wirklich obdachlos sei. Daher habe man „den Begriff ‚obdachlos‘ genauer definiert“. Offenbar so genau, dass Jan nicht mehr obdachlos ist.
Das gilt für viele andere auch: Seine Post kann man sich auch an eine der Hilfseinrichtungen schicken lassen. Wer aber künftigen potenziellen Arbeitgebern oder möglichen Vermietern nicht gleich schriftlich geben will, dass er auf der Straße lebt und mit dem Hilfesystem zu tun hat, weicht, wenn möglich, auf Bekannte aus, um eine reguläre Adresse vorweisen zu können.
Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz&Kunzt, schüttelt den Kopf über das Behörden-Wirrwarr: „Das zeigt, wie akut die Wohnungsnot in Hamburg ist und dass der Verteilungskampf in vollem Gange ist.“ Natürlich sei es nicht einfach festzustellen, ob jemand tatsächlich obdachlos ist, räumt er ein. „Aber es muss gewährleistet werden, dass niemand einfach weggeschickt wird.“
Im Zweifel müsse die Fachstelle zumindest dem Hilfesuchenden raten, sich bei einer Hilfseinrichtung eine Bestätigung geben zu lassen, dass er wirklich obdachlos ist. „Wobei auch das eine Sauerei ist“, sagt Karrenbauer und holt einmal tief Luft: „Das bedeutet ja, dass man nur mithilfe eines Sozialarbeiters seine Rechte wahrnehmen kann.“
Sozialarbeiterin Isabel Kohler hat dem Amt gegenüber bezeugt, dass Jan auf der Straße schläft. Er hat daraufhin die Dringlichkeitsbestätigung erhalten. Nur die Wohnung, auf die Jan sich bewerben wollte, ist inzwischen längst vergeben. Isabel Kohler aber steht wieder im Kontakt mit der Fachstelle: Der nächste Hinz&Künztler hat sich an sie gewandt, weil er keine Dringlichkeitsbestätigung bekommt.
Text: Hanning Voigts
Fotos: Cornelius M. Braun