Daniela Matijevic war als Soldatin im Kosovo. Die junge Frau musste dort am Öffnen von Massengräbern teilnehmen, sah Dorfbewohner und Kameraden sterben. Elf Jahre später leidet sie noch immer unter den Erlebnissen – und fordert von der Gesellschaft mehr Respekt.
Es gibt da dieses Spiel. Eltern nehmen ihr Kind in die Mitte, halten es fest an der Hand, laufen ein paar Schritte und schwingen es dann hoch in die Luft. Dabei rufen sie: „Flieg, Engelchen, flieg!“ Auch dieses Engelchen möchte fliegen, doch es kann nicht. Nicht mal im Traum, den es immer wieder träumt. Darin steht Daniela Matijevic´, als junge Soldatin im Kosovo mit dem Spitznamen Engelchen versehen, am Flughafen von Tetovo und wartet. Auf die Maschine, die sie, die „alte“, unbeschwerte Daniela aus der Zeit vor dem Krieg, endlich nach Hause bringt. Sie betet, der Pilot möge sie bitte nicht vergessen. Sie steht und wartet und betet bis heute. Aber die Maschine will und will nicht kommen.
Daniela Matijevic´ sieht diese Szene, sieht ihr altes Ich noch ganz deutlich vor sich. Sie sagt:
„Der Mensch, der ich früher einmal war, ist im Kosovo geblieben.“
Daniela erlebte dort 1999 als Rettungssanitäterin für 88 Tage und vier Stunden in Prizren „die Hölle auf Erden“. Sie war damals gerade 24, musste am Öffnen von Massengräbern teilnehmen, sah Dorfbewohner und Kameraden sterben.
Heute, hier, zu Besuch in einem Eimsbütteler Café bei Latte macchiato und großer Frühstücksplatte, scheint das alles weit weg. Daniela strahlt, drückt Freundin Merle zärtlich einen Kuss auf: Die beiden sind frisch verliebt, lernten sich übers Internet kennen. „Merles Foto hat mir sofort gefallen“, sagt Daniela und grinst. „Ich selbst habe zwar ein Pizzagesicht, aber einen Kaviargeschmack.“ Sie lacht gerne, auch über sich selbst, bringt vor allem andere gerne zum Lachen.
„Ich bin zwar traumatisiert“, erklärt sie, „aber nicht humoramputiert.“
Höchstens ein bisschen übermüdet: Am Abend vorher hat die 35-Jährige in Hamburg vor vollem Haus aus ihrem Buch „Mit der Hölle hätte ich leben können“ gelesen, anschließend wurde bis drei Uhr nachts gefeiert. „Ich kann es immer noch kaum glauben, dass so viele Menschen da waren“, freut sie sich. Die Lesung begann sie dementsprechend bescheiden: „Wenn Sie dachten, dass John Grisham heute Abend kommt, muss ich Sie enttäuschen.“
Aber sie enttäuscht niemanden, im Gegenteil. Sie liest mit klarer Sprache, fesselt die Zuhörer mit ihren Worten. Was sie vorliest, ist beklemmend und berührend. Denn Daniela Matijevic´ schreibt in ihrem Buch bildhaft und eindringlich über das Grauen, das sie als Soldatin im Auslandseinsatz erlebte – und ihre Wut darüber, dass sie nach ihrer Rückkehr von der Gesellschaft „wie Dreck“ behandelt wurde.
Dabei wollte sie immer nur helfen. Sie wurde in Osnabrück geboren, wo sie bis heute lebt, doch ihre Familie stammt aus dem Kosovo, sie selbst bezeichnet die Gegend dort als ihre Heimat. Nach Kriegsausbruch sammelte sie in der Schule Kleidung, Lebensmittel und Medikamente für die Menschen im Kosovo – und fuhr die Hilfsspenden gleich selbst dorthin. Als sie die Häuser mit Einschusslöchern sah, all die verzweifelten Menschen, wuchs ihr Wunsch, an vorderster Front zu helfen. Zwar machte sie nach der Schule erst eine Ausbildung zur Bürokauffrau, doch als sie bei einer Jobmesse an einen Stand der Bundeswehr kam, dachte sie: „Das ist es. Da kann ich etwas Sinnvolles für andere tun.“
Sie verpflichtete sich für vier Jahre – ohne zu ahnen, was auf sie zukommen sollte. „Ich war damals nicht blauäugig“, sagt sie, „aber idealistisch. Ich dachte wirklich, ich könnte die Welt verändern.“
Nach der ersten Zeit als Sanitätssoldatin bei der Luftwaffe, wurde sie im August 1999 ins Kosovo versetzt. Daniela vermutete gleich, dass dies mit ihren Serbokroatisch-Kenntnissen zusammenhing. Und richtig, sie sollte übersetzen, kam sich bald als „Sprachmittler-Prostituierte“ vor, die „fröhlich von Kompanie zu Kompanie“ herumgereicht wurde.
Schon die Ankunft im Camp, von den dort stationierten Soldaten nur „Bronx“ genannt, war für Daniela ein Schock. Sie musste mit 21 anderen Soldatinnen in einem Zehn-Personen-Zelt schlafen, es gab kaum funktionierende Infrastruktur, die Logistiker mussten sich vorrangig um die Absicherung des Lagers kümmern, immer wieder kam es deshalb zu Versorgungsengpässen. In ihrem Buch schreibt Daniela oft von Hunger, unter dem sie litt. Richtigem, schmerzendem Hunger, der nichts mehr mit Magenknurren zu tun hatte. Vor Verzweiflung töteten die Soldaten sogar einmal einen Hund und verspeisten ihn. „Ich glaube“, erinnert Daniela sich, „ich habe in meinem Leben noch nie – weder davor noch danach – etwas mit so viel Inbrunst gegessen, wie an diesem Tag.“
Ein einziger Ausflug ins perfekt organisierte Camp der US-Soldaten – mit extra Wegweisern, die zu Kentucky Fried Chicken und Burger King führten – kam Daniela wie ein Trip ins Paradies vor. Der Alltag aber war die Hölle. Daniela arbeitete auf der Intensivstation im Feldlazarett von Prizren und sah dort vor allem Kinder leiden und sterben, die beim Spielen auf Minen getreten waren. Schon kurz nach Beginn ihres Einsatzes musste sie einem jungen Paar beibringen, dass ihr Kind tot sei. Sie sollte das Wann und Woran erklären, die Eltern trösten, doch alles, was sie rausbrachte, war: „Vas sin je umro.“ Immer wieder, bis sie selbst zusammenbrach: Ihr Sohn ist gestorben. Ihr Sohn ist gestorben. Ihr Sohn ist gestorben.
Ein anderes Mal bat Daniela zwei kleine Mädchen, sie zum Dorfältesten zu führen. Die Mädchen lachten, rannten ein paar Schritte, dann hörte Daniela einen ohrenbetäubenden Knall. Als sie an sich herunterschaute, war sie voller Blut. „Zuerst dachte ich, es sei meins. Ich dachte, ich würde sterben.“
Aber es war das Blut der Mädchen. Die beiden waren auf eine Landmine getreten und explodiert. „Warum?“, fragte Daniela sich immer wieder. „Warum traf es ausgerechnet die beiden Kleinen und nicht mich?“
Zu dem Warum kam schnell das Gefühl von grenzenloser Schuld, das sie bis heute quält. Zusammen mit anderen Soldaten sollte Daniela Massenvergewaltigungen an Kindern in einem Dorf aufklären. Nach langem Zureden konnte sie Ivica, einen zwölfjährigen Jungen, überreden, bei einer Gegenüberstellung auf seinen Peiniger zu zeigen. „Ich bin bei dir, Liebling“, sagte sie. „Dir kann nichts passieren.“ Doch kaum zeigte der Junge auf den Mann, der ihn mehrfach missbraucht hatte, zog dieser einen Revolver. Er schoss Ivica mitten ins Gesicht. Daniela bekam einen Blackout, erinnert sich erst wieder an den nächsten Tag. Und verzeiht sich den Tod des Jungen bis heute nicht:
„Auch wenn der Kopf sagt, du kannst nichts dafür – der Bauch sagt etwas anderes.“
Immer öfter stellte Daniela sich die Frage nach dem Sinn des Einsatzes. Anfangs freuten sich die Dorfbewohner noch über die Anwesenheit der NATO-Soldaten, die hier für Frieden zwischen Serben und Albanern sorgen sollten, bald aber kippte die Stimmung. „Wenn Kinder uns die Hände abklatschten, hatten sie Rasierklingen zwischen den Fingern.“ Andere warfen mit Handgranaten. Das eigene Leben zu riskieren, obwohl die Hilfe im Land nicht erwünscht war – „im Lager machte sich das Gefühl von Sinnlosigkeit breit“. Vor allem, als der erste Kamerad starb. Nur einen Tag später hätte er zurückfliegen sollen. Stattdessen musste Daniela sich nun auf den zu engen Sarg knien, damit er zugeschweißt werden konnte. „Was soll seine Frau später einmal dem gemeinsamen Sohn erzählen?“, fragt sie. „Dass sein Vater gestorben ist, weil er einen Brunnen bauen wollte?“ An diesem Abend verlor Daniela sich im Alkoholrausch. Und spürte:
„Wir sind alle unheilbar verletzt – an der Seele.“
Endlich, „nach 88 Tagen und vier Stunden in der Hölle“, kehrte Daniela zurück nach Deutschland. „Jetzt kann dir nichts mehr passieren“, dachte sie erleichtert und war noch ganz optimistisch. „Jetzt wird wieder alles gut.“
Aber nichts wurde gut. Der Krieg blieb in ihr. Diagnose: PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung. Die Krankheit zeigt sich bei Daniela durch Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Albträume und sogenannte Flashbacks, in denen sie alles noch einmal sieht, fühlt, hört, riecht und schmeckt, als wäre sie wieder vor Ort.
„Die Erlebnisse dort hätte ich noch überstehen können“, glaubt sie. „Aber nicht, dass ich von der deutschen Bevölkerung wie eine Aussätzige behandelt wurde.“ Sie erwartete nach ihrer Rückkehr Hilfe, Unterstützung, Respekt. Stattdessen hieß es: Selber Schuld, Herzchen, keiner hat dich gezwungen, Soldatin zu werden! Sie konnte nicht mehr arbeiten, auch ein Jurastudium musste sie wieder abbrechen, sie wurde vom Arbeitsamt zum Sozialamt und von dort zum Versorgungsamt geschickt. Niemand fühlte sich zuständig.
Dass sich Freunde von ihr zurückzogen, verstand sie. „Ich hatte mit der früheren Daniela ja nichts mehr gemeinsam“, sagt sie. „Und wie soll man jemandem den Krieg erklären, der nie im Krieg war?“ Mit ihrer Familie spricht sie bis heute nicht über ihre Zeit im Kosovo, auch das Buch sollen ihre Angehörigen nicht lesen. „Ich möchte sie schützen. Es ist mein Trauma, nicht ihres.“
Kurz nach ihrer Rückkehr fand Daniela zwar professionelle Hilfe im Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg, wollte sich damals aber nicht für längere Zeit stationär einweisen lassen: Sie hoffte, durch das baldige Ende ihrer Dienstzeit als Soldatin genügend Abstand zu ihren Erlebnissen zu entwickeln. Als ihre Albträume und Kopfschmerzen stattdessen zunahmen, suchte sie sich in Osnabrück eine Therapeutin – doch diese fiel ihr nach ihren Erzählungen schluchzend in die Arme. „Letztlich musste ich sie trösten.“ Sie probierte weitere Therapieansätze aus, ging von Arzt zu Arzt, alles vergebens. „Wer an PTBS leidet, ist eben nicht psychisch krank“, sagt sie. „Es ist vielmehr eine normale Reaktion eines normalen Körpers auf eine kranke Situation.“
Jetzt möchte sie andere Kriegsheimkehrer ermutigen, öffentlich über ihr Trauma zu sprechen. Ihr habe das jedenfalls geholfen. Nicht, dass sie an Heilung glaube. Aber zumindest an Linderung. Sie zitiert dafür aus einem Songtext von Moses Pelham, den sie so gerne hört. „Ich habe weniger Leid, wenn es geteilt wird – wenn auch nur mitgeteilt.“
Sie sei zum Beispiel nicht mehr wütend, sagt Daniela.
„Meine Wut hat sich umgewandelt in Aktivität für den Veteranenverband.“
Die Gründung dieses Verbandes vor einigen Wochen empfand sie als „zwingend“, es gehe dabei nicht nur um Selbsthilfe, sondern vor allem um politisches Wirken. Deshalb möchte sie auch selbst in die Politik gehen. „Ich besitze nämlich noch etwas, das den meisten Politikern schon abhanden gekommen ist: ein Rückgrat.“
Unter anderem will Daniela erreichen, dass die Stichtagsregelung aufgehoben wird, nach der nur diejenigen traumatisierten Soldaten weiterhin Anspruch auf Beschäftigung bei der Bundeswehr haben, die nach dem 1. Dezember 2002 im Auslandseinsatz waren. „Nennt mich ruhig schon mal Angie Matijevic´“, flachst Daniela. Und beruhigt: „Es besteht keine Gefahr, dass ich abhebe. Man darf nicht vergessen: Ich habe nur ein Buch geschrieben, nicht das Rad neu erfunden“ – auch wenn es dringend an der Zeit sei, dass sich was dreht. „Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen“, findet sie. „Momentan verhält sich sie Gesellschaft allerdings noch wie in einem Sketch von Loriot: Alle sehen die Nudel, aber keiner spricht darüber.“
Also wird Daniela weiter ihre Stimme erheben. Eine Aufgabe, die sie ausfüllt, die ihr „endlich wieder Sinn“ gibt. Genau wie das Schreiben.
„Mittlerweile glaube ich sogar, dass trotz Trauma ein schönes Leben möglich ist.“
Schön und friedlich wie an diesem Morgen, an dem Daniela Merles Hand hält und lächelt. Und stolz ein Bild von ihrem kleinen Neffen zeigt. „Wenn ich ihn zu Bett bringe und er mich noch kurz vorm Einschlafen umarmt und flüstert: ‚Ich hab dich lieb, Dani‘, dann weiß ich, wofür es sich zu leben lohnt.“ Überhaupt seien Kinder der lebende Beweis, dass es Gott gibt: „Sie begegnen dir ohne Misstrauen und öffnen dir ihr Herz.“ Vielleicht wird Daniela auch selbst einmal eine Familie gründen. Sie zwinkert Merle zu und sagt: „Aber das ist wie beim Laufen lernen – da beginnt man schließlich auch mit dem ersten Schritt, nicht mit dem Marathon.“
Text: Maren Albertsen
Foto: Mauricio Bustamante