Das Pik As war schon immer mehr als eine Obdachlosenunterkunft.
(aus Hinz&Kunzt 248/Oktober 2013)
Hamburg um 1900: Der Hafen boomt. Wie ein Magnet zieht die Stadt Menschen an, die auf Arbeit und Auskommen hoffen. Die Quartiere der Armen platzen aus allen Nähten. Mit der Kahlschlagsanierung der innerstädtischen Gängeviertel verschärft die Stadt die Not weiter: 20.000 Menschen müssen sich eine neue Bleibe suchen. Wer Glück hat, kann sich bei einer Arbeiterfamilie in einer winzigen Wohnung einmieten. Andere finden einen Platz in einer christlichen Herberge oder billigen Absteige. Wer auf der Straße lebt oder bettelt, landet in „Schutzhaft“. Die Polizeigefängnisse sind überfüllt.
Bereits um 1880 haben wohlhabende Hamburger einen „Asyl-Verein“ gegründet, um die wachsende Armut zu bekämpfen. Doch die beiden Obdachlosenunterkünfte, die sie mit Geldern der Stadt betreiben – davon eines für Frauen, Mädchen und Kinder –, reichen längst nicht mehr aus. Zudem ist das Männerasyl in der Brauerstraße baufällig. Bürgerverein und Polizeibehörde schmieden ein Bündnis: Sie planen ein halb staatlich, halb privat getragenes Haus zur Unterbringung von Obdachlosen und Polizeihäftlingen – und wählen als Standort die Neustadt.
Schon damals versuchen Verwaltung und Bürgertum, die Opfer sozialer Missstände in unterschiedliche Gruppen einzuteilen – auch um die Kosten in Grenzen zu halten. Sie unterscheiden arbeitssuchende und arbeitsscheue, sesshafte und nicht sesshafte, schuldhaft und schuldlos Verarmte, oder, wie es in den Beratungsprotokollen zum geplanten Obdachlosenasyl heißt: Es sei „großen Wert darauf zu legen, dass das großstädtische Vagabundentum sicher verhindert werde, das Vereinsasyl zu missbrauchen“. Wer von der Polizei zum Landstreicher erklärt wird, wird wegen „qualifizierter Obdachlosigkeit“ mit „Korrektionsnachhaft bestraft“. Das heißt: mehrere Wochen oder Monate im städtischen Arbeitslager.
Drei Jahre vergehen vom Bürgerschaftsbeschluss 1910 bis zur Eröffnung des Hauses im Herbst 1913. Die Auseinandersetzungen im Vorfeld wirken vertraut: Bürgervereine protestieren in Versammlungen und mit Petitionen. Sie fürchten Belästigungen und die Entwertung ihrer Grundstücke. Zudem, so heißt es, könnten Obdachlose in dem schwer kontrollierbaren, winkligen Gängeviertel in der Neustadt einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor darstellen. Ein SPD-Abgeordneter wirft den Bürgern vor, die Probleme der Armen von sich fernhalten zu wollen. Obdachlose seien „auch Menschen …, die leider Schiffbruch im Leben erlitten und den festen Boden unter den Füßen verloren haben“. Die Mehrheit der Parlamentarier stimmt den Senatsplänen zu.
Das neue Haus besteht aus zwei baulich völlig voneinander getrennten Teilen: Über einen Hofeingang in der Neustädter Straße gelangen Schutzsuchende in das „Polizei-Asyl“, in dem in Etagenbetten 312 Obdachlose Platz finden. Aus der Amtsbezeichnung „P.As.“ wird im Volksmund bald Pik As. Von einer anderen Straße aus, dem Breiten Gang, geht es zum privaten „Asyl für obdachlose Männer“ mit 436 Betten. Das Privatasyl dient als Anlaufstelle für in Not Geratene. Hier fragt keiner nach Namen oder Papieren, doch der Aufenthalt ist zeitlich begrenzt. Im Polizeiasyl hingegen leben vor allem Männer, die schon länger keine Unterkunft mehr haben. Vielen von ihnen droht Zwangsarbeit. Wie die beiden Einrichtungen zusammenarbeiteten, ist nicht überliefert.
Bekannt sind nur Zahlen: Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 schlafen bis zu 700 Menschen pro Nacht in den beiden Asylen, ein Jahr später sind es nur noch 40 – wer ein Gewehr halten kann, muss an die Front. Nach dem Krieg füllt sich das Haus schnell wieder. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 übernachteten dort rund 1600 Menschen täglich. Hamburg gilt vielen weiterhin als Tor zur Welt. Die Stadt versucht mit allen Mitteln, den Zustrom von Wanderarbeitern zu stoppen. Sie erhalten nur „notdürftige Fürsorge“, was sie zum Verlassen der Stadt bewegen soll: einen Gutschein für einen Liter Suppe. Wer diesen am nächsten Tag erneut verlangt, muss erst mal zwei Stunden „Unterstützungsarbeit“ leisten.
Die Nationalsozialisten unterstellen das Pik As der Sozialbehörde und erhöhen den Druck auf Obdachlose – sogenannte „arbeitsscheue Elemente“ – immer mehr. In Hamburg werden sie zunächst aus der Stadt gejagt, wie im Winter 1935/36 der Bürgermeister von Geesthacht beklagt: „Die Leute sind hier mit Fußzeug erschienen, das vollkommen ungenügend und viel zu klein war; verschiedene waren sogar hier, die hatten keine Unterhemden und keine Unterhosen in dieser Kälte.“ In den Jahren darauf landen viele Obdachlose in Arbeitslagern, andere müssen an die Front. Ab 1938 führt die Gestapo im Pik As immer wieder nächtliche Massenverhaftungen durch. Tausende sogenannte „Asoziale“ sterben bis zum Kriegsende im Konzentrationslager Sachsenhausen.
Er gehörte zur Minderheit der
nicht-asozialen Insassen. „Warum nimmst
du denn nicht ein billigeres kleines Zimmer
oder eine Schlafstelle, wenn du arbeitest?“
„Ja, wenn ich immer Arbeit hätte,
aber ich weiß nie, wann ich eine Schicht
kriege, und hier kostet das Wohnen
nur dreißig Pfennig am Tag, und wenn
man nicht zahlen kann, sogar gar nichts.“
„Die Zeit“ vom 13.1.1955
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dient das Pik As als Altersheim, Unterkunft für obdachlose Familien, Kriegsrückkehrer, junge Obdachlose und Studenten. Ein Trakt wird zur Station für sogenannte „triebhafte Mädchen“, was laut Behörde „vielfältige Probleme“ mit sich bringt, weil bei den männlichen Hausbewohnern Begehrlichkeiten entstehen. 1950 sind die Kriegsschäden beseitigt – eine Sprengbombe hatte zwei Stockwerke des Hauses nahezu vollständig zerstört. Mit dem erneut einsetzenden Boom im Hafen drängen zunehmend Arbeiter in die Unterkunft. Auch wenn sie oft Tagelöhner sind, verdienen sie vergleichsweise gut, was zu bizarren Situationen führt: Manche halten sich für fünf Mark einen „Diener“, der für sie ihr Bett und sonstige Erledigungen macht.
In der Unterkunft suchen in den Nächten bis zu 1000 Menschen Schutz, einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“ zufolge „in zweistöckigen Drahtbetten ohne Decken, Matratzen oder auch nur Strohsäcke“. In einem Schlafraum stehen 50 bis 80 Betten, das Haus ist überfüllt, so die Schilderung des Reporters: „Auf der Suche nach einem Bett muss der ,Neue‘ über die hinwegsteigen, die in Hemd und Hose, die zusammengerollte Jacke unter dem Kopf, zitternd auf den nackten Fliesen liegen.“
„Eine Woche Pik As reicht in der Regel,
um den Mut zu verlieren. ,Ein Monat Pik As genügt,
und du schaffst es nicht mehr.
Weil du einfach keine Kraft mehr hast.
Schon rein physisch gesehen.
Besonders, wenn der Alkohol noch dazukommt,
und der kommt garantiert, sonst hältst
du es gar nicht aus und wirst verrückt.‘ Der das
sagt, ist seit vier Jahren im Obdachlosenasyl.“
Günter Wallraff, 1967
1967 übernachtet der Journalist Günter Wallraff, „verkleidet“ als Obdachloser, im Pik As und veröffentlicht seine Reportage „Asyl ohne Rückfahrkarte“. Die Verhältnisse haben sich nicht verbessert: Weiterhin schlafen bis zu 80 Männer in einem Saal in Stockbetten, weiterhin gibt es nicht mal Matratzen oder Decken. Was das für die Bewohner bedeuten kann, beschreibt Wallraff so: „Wer unten liegen muss, kann das Pech haben, dass der Kumpel im Oberbett im Delirium den Urin nicht halten kann.“ Erst in den 1970er-Jahren sorgt die Stadt für menschenwürdigere Verhältnisse: Das Haus wird saniert, die Ausstattung verbessert, kleinere Zimmer entstehen. Auf zwei 60-Mann-Säle will die Sozialbehörde dennoch nicht verzichten. Durchschnittliche „Wohnfläche“ pro Person: zwei Quadratmeter.
1995, nach einer weiteren Renovierung, reduziert die Stadt die Platzzahl auf 244 Betten in 62 Räumen. Fast die Hälfte der Zimmer sind nun Ein- und Zweibettzimmer. Ein Jahr später lässt der städtische Betreiber der Übernachtungsstätte, fördern und wohnen, auf dem Vorplatz einen Pavillon errichten, in dem Obdachlose duschen oder Kaffee trinken können. Ab 2003 halten Ärzte dort wöchentlich eine kostenlose Sprechstunde ab. Ein „Gesundheitsflur“ als geschützter Bereich für Langzeitkranke entsteht, aus der „Brenne“, in der Betroffene eine Entlausung über sich ergehen lassen mussten, wird das „Piko-Badeland“. Auch Pärchen und Obdachlose mit Hund dürfen inzwischen im Pik As übernachten, ein Förderverein entwickelt ständig neue Ideen, wie man das Leben der Bewohner erleichtern könnte.
Es bleiben gewaltige Probleme: Bis zu zwei Drittel der Bewohner leben zwei Jahre oder länger im Pik As – längst ist aus dem Notasyl auch Wohn- und Pflegeheim geworden. „In der Wirklichkeit fungiert das Pik As als Psychiatrie ohne Ärzte und Medikamente und Altenheim ohne Pflegeangebot für behandlungsunwillige Kranke“, klagt eine Sozialarbeiterin der Unterkunft 2006. Gleichzeitig sorgen wachsende Wohnungsnot und Einwanderer aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten dafür, dass im Pik As vor allem im Winter menschenunwürdige Verhältnisse herrschen. Obwohl die „Sollbelegung“ inzwischen bei 210 Menschen liegt, haben vergangenen Februar in manchen Nächten bis zu 420 Obdachlose Schutz im Notasyl gesucht. Wie vor 50 Jahren mussten sie teilweise auf dem Boden schlafen – oder im Sitzen auf Treppen.
Text: Ulrich Jonas
Foto: Heike Ollertz
Zum Tag der offenen Tür lädt das Pik As am 18. Oktober ein, Neustädter Straße 31a, von 14 bis 18 Uhr, Eintritt frei.
Heike Ollertz arbeitet als freiberufliche Fotografin für unterschiedliche Magazine. Mehrere Monate lang hat sie das Leben im Pik As dokumentiert. Eine Ausstellung darüber läuft vom 17.10.–8.11., Freelens Galerie, Steinhöft 5, Mo–Fr, 11–18 Uhr, Eintritt frei. Ihre Bilder illustrieren auch das Buch „Pik As – 100 Jahre Nachtasyl“, das zum 100-jährigen Bestehen der Notunterkunft erschienen ist (Texte: Uta Mertens). Preis: 20 Euro, die komplett als Spende an den Förderverein Pik As e. V. gehen, zu beziehen über E-Mail: foerderverein-pik-as@gmx.net
Unter www.huklink.de/pikas100 finden Sie die zitierten Berichte in voller Länge sowie alte Hinz&Kunzt-Beiträge über das Pik As.