„Wir sollten uns nichts vormachen“

Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram über vernachlässigte Kinder und die Perspektivlosigkeit vieler Eltern

(aus Hinz&Kunzt 154/Dezember 2005)

Hinz&Kunzt: Eine Mutter steht morgens nicht auf, das Kind kommt nicht in den Kindergarten, die Post bleibt ungeöffnet liegen: Können Sie sich das vorstellen?

Schnieber-Jastram: Natürlich. Auch wenn es nicht leicht ist, sich in diese Menschen hineinzuversetzen. Klar ist, wir dürfen sie nicht mit unseren bürgerlichen Maßstäben messen.

H&K: Können Sie akzeptieren, dass es Familien gibt, die nie ohne staatliche Hilfe auskommen werden?

Schnieber-Jastram: Das ist so, und das wird auch in Zukunft so sein. Wir müssen dennoch alle Anstrengungen unternehmen, dass diese Familien ein Selbstwertgefühl entwickeln und keine staatliche Hilfe mehr in Anspruch nehmen. Und man darf nicht wegdiskutieren, dass sich in den vergangenen Jahren teils eine Mentalität entwickelt hat nach dem Muster: „Das steht mir doch zu, das kann ich auch mitnehmen.“

H&K: Derzeit ist im Gespräch, Eltern darauf zu verpflichten, in gewissen Abständen zum Kinderarzt zu gehen. Was ist da geplant?

Schnieber-Jastram: Solche Dinge sind nicht so einfach zu realisieren. Rechtlich können wir die Eltern nicht zwingen, ihr Kind beim Arzt vorzustellen, und wir leben in einem Rechtsstaat. Das Grundgesetz sagt: Die Verantwortung für die Kinder haben zuallererst die Eltern. Die Vorsorgeuntersuchungen sind ein freiwilliges Angebot, das sehr häufig genutzt wird.

H&K: Angenommen, es wäre rechtlich umsetzbar: Ist es überhaupt eine gute Idee?

Schnieber-Jastram: Ich halte es für eine bedenkenswerte Idee. Die Behörde für Wissenschaft und Gesundheit prüft derzeit: Was ist notwendig? Wie sichern wir, dass alle dabei sind? Ich fände es gut, wenn man die Kinder frühzeitig regelmäßig sehen könnte – nicht erst bei der Schulvoruntersuchung. Aber auch mit diesen Untersuchungen können wir nicht 100-prozentig ausschließen, dass es Fälle von Vernachlässigung gibt. Da sollten wir uns nichts vormachen: Diese Fälle hat es nicht nur in Hamburg, sondern überall immer wieder gegeben und dies ist leider auch in Zukunft nicht auszuschließen.

H&K: Es gibt den Vorwurf, zieht eine Familie um, verschwindet sie aus dem Blickfeld des Allgemeinen Sozialen Dienstes…

Schnieber-Jastram: Um dies zu verhindern, haben wir die so genannte Elternakte eingeführt. In unserem EDV-System bleiben Fälle von Hilfen zur Erziehung oder anderer Maßnahmen des Jugendamtes so lange gespeichert, wie die entsprechende Akte bei irgendeinem Hamburger Jugendamt besteht, also auch bei einem Umzug der Familie. Wir haben jetzt die Aufbewahrungsfrist für bestimmte Akten von fünf auf zehn Jahre verlängert, so dass die Daten praktisch erhalten bleiben, bis die Kinder erwachsen sind.

H&K: ch war verblüfft, als ich erfahren habe, dass die ASD-Mitarbeiter nicht automatisch Supervision bekommen. Warum fehlt das?

Schnieber-Jastram: s gibt durchaus Supervision. Ob und wer Supervison erhält, wird in den Bezirksämtern entschieden.

H&K: Bisher gilt der Grundsatz: Solange es geht, soll das Kind in der Familie bleiben. Bleibt es dabei?

Schnieber-Jastram: Unstrittig ist, dass an vorderster Stelle die Hilfe für die gesamte Familie stehen muss. Es gibt bestimmte Risikogruppen, wie zum Beispiel Drogenabhängige, bei denen es nichts nützt, wenn sie das Kind alleine aus der Familie nehmen. Sie müssen versuchen, der Familie insgesamt zu helfen. Außerdem: Jeder weiß, das Kind fühlt sich bei seinen Eltern am wohlsten. Für mich ist es nicht die Alternative, die Kinder jetzt reihenweise in Heimen unterzubringen.

H&K: Reicht das Personal aus, um Fällen von Verwahrlosung oder Gefährdung vorzubeugen?

Schnieber-Jastram: ch glaube nicht, dass das vorrangig eine Frage des Personals ist. Wir müssen fragen, was die Ursachen sind. Eine der Ursachen sehe ich in einem ausgesprochenen problematischen Arbeitsmarkt. Die Menschen haben zu großen Teilen keine Arbeit mehr, verfallen zu Hause sehr häufig in eine gewisse Depression, die nicht dazu führt, dass sie ihre Kinder besser erziehen, sondern dass sie sie schlechter erziehen. Wir brauchen Beschäftigung für diese Menschen. Dazu kommt, dass wir trotz verstärkter Bildungsmaßnahmen viele nicht erreichen. Die strengen sich an, das sind keine böswilligen Menschen. Aber der Schulabschluss wird für sie immer schwierig sein, ebenso wie der Abschluss einer Lehre auch – wenn sie denn überhaupt begonnen wird. Für solche Menschen brauchen wir Antworten. Alle Menschen haben ein Recht darauf, eine Perspektive zu haben. Meine Philosophie ist da sehr deutlich: Wir müssen versuchen, den Menschen, die gefallen sind, die Hand zu geben, damit sie wieder aufstehen können. Aber auch, damit sie wieder alleine gehen können. Allerdings wird es dann immer noch welche geben, denen Sie die Hand zwar reichen, aber die es nicht schaffen, alleine zu gehen. Denen muss der Staat helfen.

H&K: Wenn Sie eines Tages Ihre Behörde übergeben, was möchten Sie dann erreicht haben?

Schnieber-Jastram: Das kann ich Ihnen heute nicht beantworten, das ist noch lange hin.

Interview: Frank Keil und Ulrich Jonas

Meldungen
Für Familien mit Problemen ist der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) der sieben Bezirke zuständig. Mitarbeiter und Opposition beklagen fehlendes Personal und wachsende Verwaltungsaufgaben. Hausbesuche seien kaum noch möglich, der Bearbeitungsstau werde immer größer. Laut GAL standen allein beim Harburger ASD im Mai diesen Jahres 272 Fälle auf der Warteliste. Nach Angaben der Sozialbehörde sind derzeit von 260 ASD-Stellen rund 240 besetzt.

Um straffällig gewordene Kinder und Jugendliche kümmert sich seit 2003 das Familien-interventions-Team (FIT). Das FIT arbeitet als achtes, überregionales Jugendamt in der Stadt und bekommt pro Jahr rund 2000 Meldungen von der Polizei. Schwere Fälle wie gefährliche Körperverletzung oder Raub bearbeitet das FIT selbst, weniger schwere übergibt es an den ASD. In jedem Fall machen die Sozialarbeiter einen Hausbesuch und sprechen mit den Eltern. Je nach Lage der Dinge werden weitere Maßnahmen veranlasst: von einer Erziehungsberatung bis zur Unterbringung im geschlossenen Heim Feuerbergstraße.

Da das Sorgerecht der Eltern durch Artikel 6 des Grundgesetzes geschützt ist, kann es nur unter strengen Voraussetzungen durch das Familiengericht entzogen werden (§1666 BGB). Voraussetzung für einen Sorgerechtsentzug: Das körperliche, seelische oder geistige Wohl eines Kindes wird durch Missbrauch der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch einen Dritten gefährdet. Konkrete Tatsachen müssen die Gefährdung belegen. Ferner ist Voraussetzung, dass die Eltern die Gefährdung nicht beenden können oder wollen. Wird in die elterliche Sorge eingegriffen, so darf dies nur so weit und so lange wie nötig geschehen. Das Familiengericht ist gesetzlich verpflichtet, in regelmäßigen Abständen von sich aus zu prüfen, ob der Entzug des Sorgerechtes noch gerechtfertigt ist (§1696 BGB). Wenn dies nicht mehr der Fall ist, muss der Sorgerechtsentzug aufgehoben werden.

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