Eine Nacht in der berüchtigten Obdachlosen-Notunterkunft „Pik As“
(aus Hinz&Kunzt 83/Januar 2000)
„Da kriegen mich keine zehn Pferde rein!“ Unter Obdachlosen hat das „Pik As“ einen ausgesprochen schlechten Ruf. Immer wieder berichten sie von Diebstahl und Gewalt in Hamburgs größter Notunterkunft für Männer. Ulrich Jonas (Text) und Michael Thalhause (Fotos) schlüpfen in die Rolle von Obdachlosen und haben sich eine Nacht im „Pik As“ umgeschaut.*
„Was wollt ihr in Hamburg?“ Der Wachmann mit den sauber zum Scheitel gekämmten Haaren empfängt und nicht gerade freundlich. Im Gegenteil. Den Pass verloren? „Dann kann ich euch nicht aufnehmen!“, raunzt er. Kann er aber doch: Unwillig trottet er in das Büro hinter dem Empfangstresen und holt Zettel und Stift. Während seine Kollegen sich mit Kartenspielen die zeit vertreiben, fragt er Namen, Geburtsort, -datum und Beruf ab. Durch die geräumige Eingangshalle streifen ein paar verlorene Gestalten mit wirrem Blick. Der Wachmann schließt die Tür zu einem Lager auf und reicht uns je zwei Wolldecken, saubere Bettwäsche und Handtücher. Seife? „Haben wir nicht.“ Einen Schlüssel fürs Zimmer? „Wir sind doch kein Hotel!“
Zimmer 315 liegt im dritten Stock des weitläufigen, 1913 errichteten Backsteinbaus an der Neustädter Straße. Noch in den 60-er Jahren wurden hier bis zu 1100 Menschen in Massen-Schlafsälen zusammengepfercht: Obdachlose, psychisch Kranke, Hafenarbeiter. Seitdem hat sich manches geändert: 1974 wurde zunächst der Eingangsbereich saniert, später der Rest des Hauses. 80-Mann-Schlafsäle verwandelten sich in geräumige Zweier, Vierer- und Sechser-Zimmer. 1995 folgte eine weitere Renovierung, 1996 ließ der Betreiber pflegen & wohnen auf dem Vorplatz einen Pavillon errichten, wo Obdachlose duschen oder Kaffee trinken können. Nicht mehr als 244 Betten stehen heute in 62 Räumen. Im Winter, wenn das Notprogramm für Obdachlose läuft, kommen 60 Betten hinzu.
Im Flur des ersten Stockwerks sitzt ein Wuschelkopf auf dem nackten Fußboden und lässt sich von der Wand stützen. Neben ihm zwei Plastiktüten. Aus der einen ragt der Kopf einer Korn-Flasche, aus der der Mann in der blauen Trainingsjacke ab und zu einen tiefen Schluck nimm. Später, in der Nacht, werde ich ihn auf den Stufen des Treppenhauses sitzend wieder treffen Dann wird er mich mit trüben Augen anblicken und mit lallender Stimme fragen: „Entschuldigen Sie mal, haben Sie vielleicht eine Zigarette?“ Ich werde ihm eine reichen, und seine Hand wird so zittern, dass es einige Sekunden braucht, bis er sie zu fassen bekommt. „Danke, einen schönen tag noch“, wird er sagen. Am frühen Morgen werde ich ihn noch ein letztes Mal sehen, wie er auf dem Hosenboden rutschend versucht, sich in ein Klo zu ziehen.
Im Aufenthaltsraum sitzen vier Männer an einem Tisch und tauschen über Bierflaschen hinweg Geschichten aus. „Du musst hier deine Schuhe festnageln“, sagt Rainer **, ein ehemaliger Krankenpfleger mit traurigen Augen. „So ein Quatsch!, meint sein Gegenüber, ein stämmiger Vollbart, „ich bin seit einer Woche hier und mir ist nix geklaut worden.“ Rainer, obdachloser Welten-Pendler, kennt das „Pik As“ schon von früheren Aufenthalten. „Es kommt darauf an, ob du bei diesen Bagaluten schläfst“, erklärt er freundlich und damit diejenigen, die die Nacht zum Tag machen. Und sonst? „Mit den sanitären Anlagen ist es diffizil“, sagt Rainer in gewählten Worten, die daran erinnern, dass er nicht immer in Notunterkünften gelebt haben kann. „Manche machen hier nebens Klo.“
Im Lauf der Nacht werde ich merken, dass er untertrieben hat: Dass der strenge Geruch von Urin nicht nur die Toiletten zunehmend beherrschen wird, sondern auch das Treppenhaus und die Flure – so sehr, dass sich mir beinah der Magen umdreht. Kurz vor Mitternacht schwankt ein später Einkehrer auf das „Pik As“ zu und zieht sich am Geländer mühsam die Treppenstufen hoch. Drinnen lehnt er sich an den Empfangstresen. Die Tür zum Büro der Wachmänner ist geöffnet, doch die, vom Fernseher gebannt, hören sein nach Aufmerksamkeit heischendes Brummen nicht – oder wollen es nicht hören. Eine halbe Minute vergeht. Dann schwankt der Obdachlose wieder zur Tür raus. „Ist doch egal, wo ich schlaf“, lallt er und verschwindet in der Nacht.
Zimmer 315 ist inzwischen mit vier Männern voll belegt. Zwei schnarchen laut. An Schlafen ist nicht zu denken. Paul, ein trockener Alkoholiker, sitzt auf seinem Bett und schlürft Kaffee aus einem Plastikbecher. Er ist am Nachmittag aus dem Knast entlassen worden. Zwei Monate habe er in Untersuchungshaft gesessen, wegen Schwarzfahrens. Zunächst haben ihn die Wachleute auf ein anderes Zimmer geschickt, berichtet Paul, einer der vermutlich wenigen Menschen im „Pik As“, die diese Nacht nicht unter Droge stehen. „Aber da lagen überall Kippen und Spritzen rum, und die Matratze war voll Blut“, erzählt er angeekelt. „Da kannst du doch keinen Kaffee trinken!“
Im Treppenhaus sitzt Dieter. Er komme direkt aus dem Krankenhaus, Herz-OP. Mühselig hat sich der sympathische End-Dreißiger mit seinen Plastiktüten die Stufen zum dritten Stock hochgeschleppt. Doch in Zimmer 313, wo ein Bett auf ihn warten sollte, sind alle fünf Schlafplätze belegt. „Ich lauf jetzt nicht noch mal runter“, sagt Dieter erschöpft. Lieber will er im Treppenhaus schlafen, im Sitzen. Er wäre nicht der Einzige. „Das gibt’s doch nicht“, schnauft ärgerlich der Wachmann, als ich ihn auf das fehlende Bett anspreche. Gleich drei Wachleute blättern aufgeregt in ihren Listen. Schließlich macht sich der Verärgerte unwillig auf den Weg. Angewidert zeigt er auf eine Pfütze im Treppenhaus. „Die pissen überall hin, die Penner!“ Im dritten Stock angekommen wedelt er mit seinem Zettel vor der Nase des Obdachlosen: „Hier steht, dass da sechs Betten drin sind“, sagt er. Der Ton seiner Stimme schwankt zwischen Vorwurf und Entschuldigung. Erst als er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hat, dass das Bett fehlt, schließt er einen anderen Raum für Dieter auf. Vier Betten stehen darin, alle noch frei.
Noch später sitzen im Fernsehraum ein paar Übriggebliebene, jeder für sich, an den Holztischen und lallen „Scheißegel“ oder „Wir sind noch jung“. Sie sprechen mehr zu sich als zu den anderen. Vor ihnen Bier in Dosen, Bier in Glasflaschen, Bier in Mezzo-Mix-Plastikflaschen. Der Anblick ist deprimierend. Wenn der Wachmann um vier den Raum betreten wird, werden sie zu Boden gesunken sein, zwischen Penny-Tüten liegen oder sitzend, den Kopf auf dem Tisch, ihren Rausch ausschlafen.
Wer Alkoholiker ist, braucht wenig Schlaf. Noch lange hat es nicht gedämmert, da sitzt Stefan mit drei Kumpels im Aufenthaltsraum und sagt: „Korn muss sein!“ Der Mann mit den wachen grauen Augen ist einer der Dauergäste des „Pik As“, von denen es offenbar nicht wenige gibt – obwohl eine Notunterkunft keine Bewohner haben sollte. „1992 war ich das erste Mal hier“, sagt Stefan unbestimmt. Dann kratzen die Freunde die letzten Märker zusammen für die Droge, 12.50 werden es. „Macht eine Pulle Korn und drei Bier“, sagt Stefan zufrieden. Sein Freund trägt keine Strümpfe. Auf seinen Beinen wuchert Schorf unter den Jeans hervor. Was sie den Tag so vorhaben? „Wir bleiben hier und saufen.“ Stefan lacht, seine Kumpels lachen mit. Ob sie zurück ins Leben finden werden? Und ob ihnen die zwei Sozialarbeiter helfen können, die tagsüber den bis zu 250 problembeladenen Menschen im „Pik As“ gegenüberstehen?
Neun Uhr. Eine Türkin feudelt den Boden, Der angenehme Geruch von Putzmitteln füllt die Eingangshalle, in der ein paar Ernüchterte Automaten-Kaffee an Stehtischen trinken. Ein Aufsehe quatscht mit einem älteren Mann, der mit zwei Krücken in der Hand auf eine freie Waschmaschine wartet. „Ganz schön leer zur Zeit“, meint der Wohnungslose. „Die meisten Obdachlosen gehen aufs Schiff“, sagt der Aufseher. „Da werden sie nicht erfasst.“
Nach dieser Nacht bekomme ich eine Ahnung davon, warum manche auch im Winter lieber Platte machen, Ob ich noch mal ins „Pik As“ gehen würde, wenn ich in Not wer? Ich weiß es nicht.
*Die Kosten der Übernachtung (12 Mark pro Person) hat Hinz&Kunzt an pflegen und wohnen überwiesen.
** alle Namen geändert
Forderungen von Hinz&Kunzt im Januar 2000:
1) die Auflösung der Massen-Unterkunft „Pik As“, statt dessen kleine Notunterkünfte in den Bezirken
2) sozialpädagogisch geschultes Personal auch nachts
3) keine Personalienkontrolle bei der Aufnahme
4) abschließbare Schränke sowie von innen abschließbare Zimmertüren