Der Initiator der Zeltstadt von Paris, Augustin Legrand, über seinen politischen Erfolg, das Leben auf der Straße und das einklagbare Recht auf eine Wohnung
(aus Hinz&Kunzt 170/April 2007)
Kurz vor Weihnachten 2006 bauten der Schauspieler Augustin Legrand (31) und seine Brüder Jean-Baptiste (30) und Joseph (21) mitten in Paris 200 rote Iglu-Zelte auf – als Notunterkunft für Obdachlose. So machten sie das Leid der französischen Wohnungslosen sichtbar. Die Kampagne wurde zum Medienereignis. Inzwischen beschloss die Nationalversammlung, ein einklagbares Recht auf Wohnraum einzuführen. Damit haben die „Kinder von Don Quijote“ erreicht, was allen sozialen Initiativen Frankreichs seit Jahrzehnten unmöglich schien. Hinz&Kunzt hat Legrand nach den Gründen des Erfolgs gefragt.
Hinz&Kunzt: Wie sind Sie auf die Idee der „Kinder von Don Quijote“ gekommen?
Augustin Legrand: Ich kenne einige Obdachlose aus meinem Stadtteil. Es gibt zwar eine öffentliche Debatte um Obdachlosigkeit, aber in den Medien kommt stets nur der bärtige Clochard vor, den es so gar nicht gibt. Heute leben in Frankreich Menschen auf der Straße, die sogar Arbeit haben. Obdachlos sind auch Kinder, psychisch Kranke, Behinderte, alte Frauen. Die nimmt aber keiner wahr, weil sie in den Medien nicht repräsentiert sind.
[FARBE=#3655A1][F]H&K:[/F][/FARBE] Aber es gibt Hilfsprogramme.
Legrand: Die sind Teil des Problems. Die Organisationen werden vom Staat bezahlt und kümmern sich nur um Notfälle, nie um richtige Veränderung. Nebenher streiten sie sich untereinander um die staatlichen Gelder. Mir wurde klar, dass sich so nichts ändert. Also habe ich im Oktober 2006 beschlossen, sechs Wochen auf der Straße zu schlafen.
Hinz&Kunzt: Was haben Sie dort erlebt?
Legrand: Ich bin ein Typ, der nie Angst hat. Ich habe unter Brücken auf Kartons geschlafen und bin mit Obdachlosen ins Gespräch gekommen. Und ich bin nicht als Journalist losgegangen, um Material für ein Buch zu sammeln. Ich hatte keine Partei, keinen Verein, nichts. Meine große Stärke war, dass ich ein absoluter Niemand war. Ich bin losgezogen, um für die Obdachlosen die Revolution zu machen.
Hinz&Kunzt:Wie kam es zu der Zeltstadt?
Legrand: Ich habe allen Obdachlosen gesagt: „Kommt am 2. Dezember zum Place de la Concorde, ich werde Zelte mitbringen.“ 400 Obdachlose waren da, ich war überwältigt. Die Polizei wollte uns aber keine Erlaubnis zum Zelten geben, und so mussten wir noch einmal anfangen. Am 16. Dezember morgens habe ich mit Freunden die Zelte am Kanal Saint-Martin aufgebaut. Am eiskalten Wasser fühlte ich mich sicherer, denn bei einer polizeilichen Räumung hätten Obdachlose hineinfallen und sterben können – für die Regierung eine Katastrophe. Als die Polizei mit 400 Beamten anrückte, waren schon viele Obdachlose da – und wir hatten gewonnen. Zu den Obdachlosen habe ich gesagt: „Wenn ihr etwas erreichen wollt, bleibt! Jetzt kommt es auf euch an!“ Und dann kamen schon die ersten Journalisten und die ersten Unterstützer.
Hinz&Kunzt: Mit welchen Argumenten sind Sie in die Verhandlungen mit Politik und Verbänden gegangen?
Legrand: In der französischen Verfassung wird jedem Mann und jeder Frau ein würdiges Leben zugesprochen. Aber das Leben auf der Straße gleicht der Folter. Wenn wir unsere Gefangenen behandeln würden wie unsere Obdachlosen, dann wäre das ein weltweiter Skandal. So einfach ist das.
Hinz&Kunzt: Ist Ihr Konzept auf andere Länder übertragbar?
Legrand: Ja, das garantiere ich Ihnen! Das ist wie ein gutes Kochrezept. Wer das Gleiche in Berlin oder Hamburg machen will, muss nur die Obdachlosen für sich gewinnen, und dann braucht er noch 200 Zelte. Wenn die erst mal stehen, sehen die Menschen das am Bildschirm, ändern ihre Meinung, und die Politik muss reagieren. Wenn Sie wollen, komme ich nach Hamburg und helfe Ihnen, die Zelte aufzubauen.
Hinz&Kunzt: Waren Sie deshalb erfolgreich, weil am 22. April die Präsidentschaftswahl bevorsteht?
Legrand: Klar waren die Politiker wegen der Wahlen panisch und wollten sich beliebt machen. Die mediale Aufmerksamkeit hatten wir aber nur, weil wir mit unseren Zelten direkt vor ihrer Nase waren und weil es das erste Mal Obdachlose gab, die gemeinsam gesagt haben: „Jawohl, wir sind obdachlos, und unsere Situation ist untragbar!“
Inzwischen bewegt sich enorm viel. Wir waren niemand, und jetzt treffen wir alle zwei Wochen den Sozialminister, wir haben das einklagbare Wohnrecht erreicht und 850 Millionen Euro für Sozialwohnungen, einfach so, zack, auf den Tisch! Wir haben das Leben von Menschen verbessert, wir haben die Welt bewegt!
Hinz&Kunzt:Sind Sie von Ihrem Erfolg überrascht?
Legrand: Nein, kein bisschen. Wenn ich das nicht vorher gewusst hätte, wäre ich gar nicht losgezogen. Ich bin schließlich Vater, ich habe auch noch andere Dinge zu tun.