Interview mit Ulrich Kaulen vom Kinderschutzzentrum
(aus Hinz&Kunzt 190/Dezember 2008)
Hinz&Kunzt: Kinder werden derzeit schneller aus ihrer Familie genommen. Von 2006 auf 2007 stieg die Zahl der „Inobhutnahmen“ um 8,6 Prozent. Warum ist das so?
Ulrich Kaulen: Wir vermuten, dass nicht die Zahl von Kindeswohlgefährdungen zugenommen hat, sondern dass es eine größere Aufmerksamkeit gibt. Und es gibt möglicherweise eine geringere Risikobereitschaft auf Seiten der Jugendämter und der Familiengerichte: Nehme ich ein Kind aus der Familie, bin ich tendenziell auf der sicheren Seite. Ohne Zweifel gibt es Situationen in Familien, die als gefährdend für Kinder einzuschätzen sind. Wenn die Eltern mitarbeiten und sich nicht verschließen, stellt sich die Frage: Sollte man das Kind nicht besser bei den Eltern lassen? Sicher ist: Helfen hat immer etwas mit Risiko zu tun.
Hinz&Kunzt: Und dieses Risiko will niemand eingehen?
Kaulen: Im Moment kursiert vielerorts der Begriff „Worst-Case-Scenario“. Übersetzt: Der Helfer muss eigentlich immer vom Schlimmsten ausgehen. Unsere sehr großen Bedenken sind: Wenn wir grundsätzlich vom Extrem ausgehen und entsprechend handeln, werden wir viele Eltern verlieren, die wir sonst erreichen können. An uns wenden sich viele Eltern, die von sich aus an der schwierigen Situation etwas ändern wollen.
Hinz&Kunzt: Wie erleben es Eltern, wenn ihr Kind aus der Familie genommen wird?
Kaulen: Es gibt Eltern, eher wenige, die sind erst mal erleichtert. Die merken: Ich will eine gute Mutter, ich will ein guter Vater sein, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie das geht. Und es gibt Eltern, die fühlen sich ohnmächtig und sagen: Dann rüste ich eben auf! Ich hole mir Anwälte und verklage das Jugendamt! Womöglich folgt ein jahrelanger Rechtsstreit und niemand rührt sich von der Stelle. Wichtig ist gerade in verfahrenen Situationen, die Kinder im Blick zu behalten.
Hinz&Kunzt: Wird denn den Eltern überhaupt geholfen?
Kaulen: Oft wurde ihnen gesagt: Sie müssen sich ändern! Aber die Eltern wissen nicht, wie sie das machen sollen. Man sagt ihnen: Gehen Sie mal ins Kinderschutzzentrum! Dann kommen sie und sagen: „Ich will meine Kinder wiederhaben! Dann ist alles wieder gut.“ Dem wäre natürlich nicht so. Wir haben hier manchmal Mütter und Väter sitzen, die sagen nach einer Weile: „Ich weiß eigentlich seit sieben Jahren nicht ein noch aus.“ Bei solchen Gesprächen kann es allerdings nicht gleich darum gehen, sofort eine Lösung zu finden.
Hinz&Kunzt: Sondern?
Kaulen: Dass Eltern erleben, dass ihnen zugehört wird; dass sie sich jemandem anvertrauen können. Eltern können lernen, dass Hilfe anzunehmen nicht ein Eingeständnis von Schwäche ist, sondern im Gegenteil – von Verantwortung sich selbst und seinen Kindern gegenüber. Wichtig ist, dass die Eltern wissen: Das Kind bleibt ihr Kind! Auch wenn es im Kinderheim lebt; auch wenn es dort vielleicht zu Recht zwei Jahre bleibt. Wir schauen dann: Wie sieht der Kontakt zwischen Eltern und Kind in der Zwischenzeit aus? Werden die Eltern als störend empfunden, wenn sie das Kind besuchen? Oder gibt es eine gute Elternarbeit? Ist das gegeben, kann man viel leichter gemeinsam überlegen: Was spricht dafür, was dagegen, wenn sich Eltern und Kind oft oder nicht so oft sehen? Doch dazu brauchen die Helfer das Gefühl, ein mögliches Risiko auch tragen zu können: Nur wer selber geschützt ist, kann auch Kinder schützen.
Hinz&Kunzt: Werden die Helfer vom Jugendamt genügend geschützt?
Kaulen: Die Kollegen vom Jugendamt sind absolut nicht zu beneiden, denn sie müssen bei jeder einzelnen Entscheidung das Risiko letztlich persönlich tragen. Dazu kommt, dass die Jugendämter immer wieder durch die Politik unter Druck geraten.
Hinz&Kunzt: Wie sieht die Arbeitsbelastung in den Jugendämtern aus?
Kaulen: Einige Abteilungen des Allgemeinen Sozialen Dienstes haben Überlastungsanzeigen* gestellt und damit zum Ausdruck gebracht: So wie die Situation derzeit ist, kann keine optimale Arbeit geleistet werden. Daraus aber abzuleiten, dass die Jugendämter generell nicht nach den „Regeln der Kunst“ arbeiten, halte ich für eine Fehleinschätzung.