Beim „Pennergame“ kann sich ein Obdachloser aus dem Elend befreien – durch Betteln, Musizieren oder Diebstahl. Während manche H&K-Verkäufer und unser Autor das Online-Spiel schätzen, sind Projektmitarbeiter entsetzt
(aus Hinz&Kunzt 190/Dezember 2008)
Wenn ein sonst friedlicher Hinz&Kunzt-Verkäufer plötzlich berichtet, dass er eigentlich eine Currywurstbude überfallen wollte, dies aber nicht geschafft hat, weil er in einen Bandenkampf geraten ist, ist das nicht zwingend ein Grund zur Besorgnis.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass auch er im Internet beim Pennergame gelandet ist und sich einen Account zugelegt hat.
Dass es dieses Online-Spiel überhaupt gibt, verdanken die Verkäufer und die rund 850.000 angemeldeten User Marius Follert und Niels Wildung. „Das Thema war ja schon lange in den Medien aktuell, und wir haben auf St. Pauli immer wieder die Schicksale der Menschen gesehen“, erzählt Follert – und wie er und sein langjähriger Freund auf die Idee kamen, ein Spiel zu entwickeln, bei dem der Spieler einen „untalentierten Penner, der weder lesen noch schreiben kann“, aus der Gosse führen muss. Das Ziel ist es, durch Flaschensammeln, Betteln, Musizieren, Diebstahl oder Überfälle das Vermögen zu vergrößern und unterschiedliche Fähigkeiten wie soziale Kompetenz, Sprechen und Kämpfen zu erlangen. Am Ende winkt der Einzug in eine noble Villa in Blankenese – mit einem Elefanten als Haustier.
„Als ich davon gehört habe, dachte ich gleich: Geil, da muss ich mitmachen“, erzählt Verkäufer Gerrit, „aber dann kam gleich ein anderer Gedanke, und zwar, warum es keine Hinz&Kunzt-Verkäufer gibt.“ Mittlerweile spielen Gerrit und sein Freund Peter das Spiel so häufig wie möglich. Gerrit sieht die Grundidee des Spiels durchaus positiv und kann der Simulation auch für sein persönliches Schicksal viel abgewinnen: „Am besten finde ich, dass die Leute sehen, wie schwer es ist, nach oben zu kommen. Es klappt nicht jeden Tag so einfach mit dem Flaschensammeln und Betteln. Man muss dafür echt ackern.“ Und auch Peter ist beim Pennergame bereits angemeldet und sieht es ähnlich wie Gerrit: „Es ist ja schon wie im wirklichen Leben – wenn du was erreichen willst, dann musst du dafür auch was tun!“
Niels Wildung und Marius Follert sehen das anders: Pennergame spiegelt nicht die Realität wieder, sondern es ist nur eine fiktive Simulation. „Wie realitätsfern es ist, erkennt man daran, dass man einen Elefanten als Haustier halten kann“, erklärt Follert und erntet ein zustimmendes Nicken von Gerrit und Peter. „Die User können unterscheiden, was Spiel ist und was Realität. Das ist wie bei einem Zeichentrickfilm, wo auch vieles übertrieben dargestellt wird.“
Als Follert und Wildung Anfang 2007 begannen, das Spiel zu entwerfen, ahnten sie nicht, welche Reichweite das Pennergame haben würde. Und schon gar nicht, dass sie mit ihrer Idee das beliebteste Online-Spiel Deutschlands erschaffen würden. Dass sie eine eigene Firma gründen sollten, um so ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, daran dachten beide anfangs kein Stück. Bewusst sprechen die beiden Hamburger Entwickler eine Altersgruppe zwischen 14 und 20 mit ihrem Online-Spiel an. Aber auch aus allen anderen Altersklassen und aus allen Sozialgefügen haben sich Spieler registriert. Und haben ihren Spaß dabei. Dass kritische Stimmen aufkommen würden, daran dachten die beiden 20-Jährigen am Anfang der Entwicklung nicht, und die zahlreichen positiven Rückmeldungen von unterschiedlichsten Personen erstickten moralische Zweifel im Keim. Heute fließen Teile der erwirtschafteten Einnahmen an gemeinnützige Hamburger Organisationen. So haben die Entwickler nach eigenen Angaben eine vierstellige Summe über ein Internetportal an das Hamburger Spendenparlament gespendet und kündigten für Dezember eine Spende von „mindestens 10.000 Euro“ an eine wohltätige Einrichtung an.
Bei Hinz&Kunzt sorgt das Spiel für Zündstoff (siehe Kommentar). Gerrit kann am Spiel „fast nichts Verwerfliches“ finden. „Ich habe auch schon einiges davon durchgemacht. Schnorren kenne ich und Flaschensammeln auch. Nur Musik auf einer Grashalmflöte oder auf einer Bierflasche habe ich nie gespielt.“ Die Gewalt und die Kriminalität, die den Obdachlosen beim Pennergame zugeschrieben werden, kann Gerrit nicht wirklich gutheißen, weiß aber, dass es auf der Straße „solche und solche“ gibt. Und auch Vorschläge für die Weiterentwicklung hat der langjährige Hinz&Kunzt-Verkäufer noch: „Ich frage mich, wie man von einem Ort zum anderen kommt. Man sollte mit dem HVV fahren können, und wenn man beim Schwarzfahren erwischt wird, dann gibt es drei Tage Spielverbot. Und der Werdegang sollte auch wieder rückwärts gehen, denn man muss sich auch anstrengen, um sein Leben im Griff zu behalten.“
Doch an Ideen mangelt es weder Niels Wildung noch Marius Follert, nur an der Zeit für die Umsetzung hapert es. Die beiden Jungunternehmer wissen, dass sie das Spiel weiterentwickeln müssen, damit die Spieler nicht die Lust verlieren. Deshalb ist der nächste Schritt, den die beiden planen, die Erschaffung zusätzlicher Welten. Bisher existiert nur Hamburg, die nächste Kulisse könnte London sein.
Derzeit überlegen die Macher, wie sie das Spiel dort spannend gestalten könnten: Zum Beispiel fällt die sichere Einnahmequelle aus dem Pfandflaschen-Geschäft weg, die gibt es in London nämlich nicht. Dafür wird aber die Möglichkeit geschaffen, ein Straßenmagazin zu vertreiben, um zusätzliches Geld zu verdienen. Eine Überlegung, die es auch für die Hamburger Variante schon gab, die dann aber wieder ad acta gelegt wurde. Sonst gäbe es Hinz&Kunzt wohl schon jetzt auch im Pennergame.