Behinderte und Nicht-Behinderte erobern den Alsterdorfer Marktplatz
Köstliche Häppchen. Melone und Ananas liegen mundgerecht geschnitten auf dem Probierteller eines Obststandes. Immer wieder greift Bernd Trape* zu. Ohne große Mühe erreicht er von seinem Rollstuhl aus die süßen Früchte. Den ermahnenden Blick des Obsthändlers ignoriert er. Wie lange er auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf lebt, weiß er nicht genau. „Der ist später gekommen“, mischt sich der kleine weißhaarige Mann neben ihm ein. Er selbst sei schon 60 Jahre hier, prahlt er und greift ebenfalls zu.
„Ich hab’s mir schlimmer vorgestellt“, sagt der Obsthändler Jörg Ebeling. „Für uns alle ist das eine neue Erfahrung“, fügt er schnell hinzu und schickt erneut einen ermahnenden Blick in Richtung Bernd Trape. Der greift unbeeindruckt zum nächsten Stück Ananas.
Seit dem 5. September steht Jörg Ebeling mit seinem Obststand jeden Freitag auf dem neuen Alsterdorfer Markt. Nach dreijähriger Bauzeit ist auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf ein offener, großzügiger Marktplatz entstanden. Neben Ärztehaus und Geschäften werden demnächst auch der Fahrradladen „Alsterspeiche“ und das Atelier „Lichtzeichen“ ihre Räume beziehen. Mit der Umgestaltung hat die Stiftung, die seit 140 Jahren Menschen mit Behinderungen betreut, ihr ehemals abgeschlossenes Gelände zum Stadtteil hin geöffnet. Ein bundesweit einzigartiges Projekt. Ganz bewusst soll der neue Platz Menschen ohne Behinderung anlocken – zum einen mit den neuen Läden und dem Ärztehaus, zum anderen mit der noch im Umbau befindlichen Kulturwerkstatt, die sich zum Stadtteilzentrum entwickeln soll.
Kulturwerkstattleiter Martin Rand koordiniert rund 30 Mitarbeiter der Stiftung, die auf dem Platz präsent sind und bei Problemen und Konflikten zwischen Menschen mit und ohne Behinderung helfen sollen. „Patrouille ist ein schlechtes Wort“, sagt er. Die Erfahrungen der ersten Wochen sind gut: Es gab sehr wenige Probleme und in den letzten beiden Wochen sind Martin Rand und seine Mitarbeiter kaum noch gerufen worden. Fast immer seien es „einfache Kommunikationsprobleme“ zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, bei denen die „Platzmanager“ face to face vermitteln, berichtet er. Die Leitlinie seines Handelns formuliert er einfach und klar: „Ich möchte nicht, dass ein Mensch mit Behinderung anders behandelt wird als einer ohne.“
Einmal habe ein Behinderter einem anderen Kunden einen Muffin vom Teller geklaut, berichtet Andrea Eickhoff vom mobilen Kaffeestand. „So etwas geht natürlich nicht“, sagt die 38-Jährige. Doch solche Kleinigkeiten amüsieren sie mehr, als dass sie sie schrecken: „Ich bin gerne hier, es ist eine gute, eine besondere Atmosphäre.“
„Wir mussten aufhören, Anstalt zu sein – keine Gettoisierung mehr“, sagt Andreas Frost. Der 47-Jährige leitet eines der vier neuen Appartementhäuser, die am Marktplatz gebaut wurden. Jeweils 24 Behinderte leben auf zwölf Wohnungen verteilt in einem Haus. Im Erdgeschoss befindet sich eine so genannte Agentur. Hier arbeiten Heilerzieher und Sozialpädagogen. Sie unterstützen die Bewohner im alltäglichen Leben. Die neue Wohnform soll Selbstständigkeit, Autonomie und persönlichen Freiraum der behinderten Menschen fördern. Das sei für alle, auch für die Mitarbeiter der Stiftung, ein „Umlernen und müh- sames Rausarbeiten aus der eigenen Vergangenheit“, sagt Andreas Frost.
„Sooo schön ist das hier“, ruft Erika Müller gleich dreimal hintereinander und lacht. Gemeinsam mit ihrem Freund bewohnt die rundliche 50-Jährige eine der neuen Wohnungen: zwei Zimmer, Wohnküche, Duschbad und ein schöner Blick auf den Marktplatz. An den Wänden Fotos und Bastelarbeiten. Sie ist begeistert von ihrer neuen Wohnung und den vielen Geschäften. „Ich hab’ mich auch viel mehr rausgemacht“, sagt sie und strahlt. Ihre Freude wird noch größer, als ihr Freund Karl-Heinz Steinert unerwartet früher nach Hause kommt. Herzlich und zärtlich begrüßen sie sich und albern herum wie Teenager. Als sie vor einem Jahr ins neue Appartementhaus umzogen, habe sie „ein bisschen Bammel gehabt“, sagt Erika Müller. Jetzt ist sie mehr als zufrieden: „Wir fühlen uns beide glücklich“, sagt sie und legt den Arm um ihren Liebsten: „Den nimmt mir keiner weg.“
Knapp 100, etwas weniger als ein Drittel der Bewohner des Geländes, sind in die neuen Wohnhäuser gezogen. Die anderen wohnen zum Teil noch in trostlosen kasernenartigen Hochhäusern. Wie Walter Uehr, der beim Obststand auf Bernd Trape und seinen Begleiter Ernst Bude* trifft. Heute will Walter Uehr nicht einkaufen, nur mal gucken auf dem Platz. „Donnerstags kriegen wir Verpflegungsgeld, und dann wird es gleich wieder ausgegeben“, sagt er und lächelt verschmitzt. Sein Lieblingsgeschäft ist Aldi. Der 87-Jährige kann sich noch an die Zeiten der Verwahrung, der Zäune und Tore erinnern, als jeder einen Ausgangsschein brauchte, um das Gelände zu verlassen. „Tausendmal besser als früher“ findet er den neuen Platz. Schade sei nur, dass er zurzeit keine Werkstatt habe. So könne er gerade keine Flugzeugmodelle bauen.
In der Apotheke am Platz ist eines seiner begehrten Modelle zu sehen: ein roter Doppeldecker. Hoch in die Luft hält Walter Uehr sein Modell. Eine kräftige Windböe fegt über den Platz. Die Marktverkäufer springen nach ihren Schirmen. Der kleine Propeller dreht sich schneller und schneller. Gleich wird das Flugzeug abheben und eine Runde drehen über diesen besonderen Platz.
Annette Scheld
*Namen geändert
Jahr der Menschen mit Behinderungen
Das Jahr 2003 wurde von der Europäischen Union zum Jahr der Menschen mit Behinderungen ausgerufen. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Erst 1994 ist diese Ergänzung in Artikel 3 des Grundgesetzes, dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, aufgenommen worden. Doch trotz Benachteiligungsverbot können heute noch Behinderte aus Restaurants und Läden gewiesen werden, da es kein Antidiskriminierungsgesetz gibt.