Um seine Kinder in Polen zu versorgen, verkauft Mariusz in Hamburg Hinz&Kunzt. Wie hundert andere hat er weder in seiner Heimat noch hier eine echte Perspektive
(aus Hinz&Kunzt 189/November2008)
London, 4. März 2003. Mariusz Lesiak hat auch in der dritten Nacht auf dem Rasen des Hyde Parks kaum geschlafen. Zu schmerzhaft ist die Sehnsucht nach seiner Frau und seinern Kindern – und die Einsamkeit. In der Millionenstadt kennt Mariusz nur eine Menschenseele: Lukasz, der sich neben ihm zusammenkauert. Die dünnen Decken schützen die beiden Männer kaum vor Nässe und Kälte. Englands Hauptstadt zeigt sich den jungen Polen von ihrer unbarmherzigsten Seite. Mariusz ist ganz unten.
Dabei wächst er ganz behütet im polnischen Kolobrzeg (Kolberg) auf. „Meine Eltern hatten Arbeit“, sagt Mariusz stolz. Er selbst macht keine Ausbildung. „Ich wollte Wirtschaft studieren, aber das war zu teuer“, sagt Mariusz. Er will eigenes Geld verdienen und findet wechselnde Jobs in Kolobrzegs Cafés und Restaurants. Das Hafenstädtchen ist ein beliebtes Ziel für Ostseeurlauber. Das heißt: viel Arbeit im Sommer. Als „Koch, Kellner oder Küchenhilfe“ wird Mariusz nicht hoch bezahlt, aber anständig. Im Winter wird es knapp mit den Stellen im Gastgewerbe.
Über ihre Tante lernt er Dorota kennen: Es funkt. Die beiden heiraten und bald wird ihre Tochter Sandra geboren, ein Jahr später der kleine Konrad. Das junge Familienglück wird von ständigen Geldproblemen getrübt. Mariusz hält sich und seine Lieben gerade so über Wasser.
Seit der politischen Wende in Polen 1989 hat sich viel verändert. Die gut ausgebildete, wohlhabende Oberschicht Polens profitiert. Ein großer Teil der Bevölkerung bleibt auf der Strecke: diejenigen, die sich auf Kapitalismus und Leistungsdenken nicht schnell umstellen. „Wer auf die Wende vorbereitet war, hatte Chancen. Die anderen – nicht“, sagt Katarzyna Burzynska. Die polnische Rechtsberaterin sagt: „Der Unterschied zwischen reicher und armer Bevölkerung ist in Polen riesig.“ Gut bezahlte Jobs gibt es nur in den boomenden Großstädten. Allerdings: „Dort sind Mieten und Lebenshaltungskosten vergleichbar mit denen in Hamburg“, so Katarzyna Burzynska.
Mariusz in Kolobrzeg hat kein festes Einkommen. Er kann immer öfter die Miete nicht bezahlen. Der Vermieter verliert die Geduld: Die junge Familie sitzt plötzlich auf der Straße. Dorota zieht mit den Kindern zu ihrem Vater. Mariusz kann nicht bleiben: Es gibt immer wieder heftigen Streit. Er denkt daran, dass es im Ausland gut bezahlte Arbeit gibt. Schweren Herzens verlässt er Polen. Seine Odyssee beginnt. Im schwedischen Göteborg schuftet Mariusz auf dem Bau. Seinen Lohn schickt er nach Kolobrzeg. Als die Baustelle nach sechs Monaten schließt, werden die Männer entlassen. Mariusz trifft es wie ein Schlag. Die Arbeit auf dem Bau, für die er seine Kinder verließ: weg. Zwischen ihm und Dorota stimmt es auch nicht mehr. In Kolobrzeg gibt es nach wie vor keinen Platz für ihn.
Bei Mariusz brennt irgendwas durch. Er flieht regelrecht, steigt in einen Bus nach irgendwo, ins Ungewisse. Als er aussteigt, ist er in London. „Keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich hab den Kopf verloren“, sagt er mit rauer Stimme. Aus ihr klingt die Erinnerung an die Verzweiflung, die wie die feuchte Londoner Kälte in Mariusz aufstieg.
In der britischen Metropole ist er vollkommen verloren: „Ich wusste nicht mal, wo ich einen Schlafsack bekommen konnte.“ Nur eine dünne Decke hat er. In die wickelt er sich in den kalten Nächten im Park. Er versteht kein Wort Englisch. Es ist der absolute Tiefpunkt in seinem Leben.
Dann doch ein wenig Glück: Mariusz und Lukasz treffen Landsleute, die ihnen das London der „homeless people“ zeigen: Schlafplätze, Essensausgabestellen, Wärmestuben. Sie kriegen sogar Arbeit: zehn Wochen lang eine Ausstellung des „Victoria and Albert Museum“ aufbauen, von 22 Uhr bis sieben Uhr morgens, sieben Tage die Woche. Persische Kunst. Exponate, die Millionen Pfund wert sind. „Ein toller Job“, sagt Mariusz. Denn er kann wieder Geld nach Polen schicken. Nach dem Absturz sammelt er in London neues Selbstbewusstsein und versucht es noch mal in Polen. Doch in Kolobrzeg ist kein Platz für ihn. Seine Ehe ist endgültig zerbrochen.
Die Obdachlosigkeit in London war für Mariusz nichts Vorübergehendes: Ab jetzt soll er für viele Jahre kein Zuhause haben. Das weiß er noch nicht, als er ohne Fahrkarte in den Zug nach Krakau steigt. In einer Not-unterkunft kann er bleiben und sich in der Suppenküche nützlich machen. Einen Winter lang fühlt er sich gebraucht. Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres beschließt er, aufzubrechen: „Mir wurde klar: Mein Leben ist dafür zu schade“, sagt er. Klingt tatkräftig, läuft aber ins Leere: nach Kolobrzeg. Hierher, zu seinen Kindern, kehrt er immer wieder zurück. Er findet sogar eine Stelle in einem Gasthaus. Aber es funktioniert nicht. Es gibt Streit mit dem Chef. Als hätte er sich nicht nur mit seinem Vorgesetzten in die Haare bekommen, sondern gleich mit ganz Polen überworfen, kehrt er seinem Heimatland den Rücken. Endgültig.
Seit drei Jahren lebt Mariusz auf Hamburgs Straßen. Er ist Hinz&Kunzt-Verkäufer, weil er sonst nichts Legales tun kann. Jeden Monat schickt er 125 Euro nach Polen. Was er sonst verdient, spart er für Zugfahrten: Er sieht seine Kinder regelmäßig und ruft oft an. „Papa, hast du Arbeit?“, fragt seine sechsjährige Tochter ihn dann. Mariusz lächelt gequält – schwankend zwischen Scham und Stolz.
Gerne würde er von einer richtigen Arbeit erzählen. Aber er ist als Tourist in Deutschland und hat keine Arbeitserlaubnis. Er könnte eine beantragen. Dazu bräuchte er einen Arbeitgeber. Der müsste ihm einen Job frei halten, für den es keine qualifizierten deutschen Arbeitnehmer gäbe. Zu viele Konjunktive – keine Chance für Mariusz. Eine Rückkehr nach Polen ist ihm zu unsicher. Er ist dort zu oft gescheitert. Die polnische Sozialhilfe reicht für ihn und seine Familie nicht aus. Ohne festen Wohnsitz kann er an Weiterbildungen der polnischen Arbeitsagentur nicht teilnehmen, sich auch nicht arbeitslos melden. Keine Wohnung – keine Arbeit. Ohne Arbeit keine Wohnung. Das ist in Polen nicht anders als in Deutschland
Beatrice Blank
IM POLNISCHEN SOZIALSYSTEM bekommt Arbeitslosengeld, wer in den 18 Monaten vor dem Antrag mindestens 365 Tage gearbeitet hat: umgerechnet zwischen 135,22 und 202,83 Euro. 118,33 Euro sind das Existenzminimum für eine Person. Mit Ausgaben für Kultur und Transport ergibt sich das „Sozialminimum“ von 252,75 Euro. Selbst die höchstmögliche Stütze liegt unter dem Sozialminimum. Und: Es gibt nichts für Wohnung oder Heizung. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt der Regelsatz für die Grundversorgung etwa 350 Euro plus Miet- und Heizkosten. Wer in Polen kein Arbeitslosengeld bekommt, ist auf Sozialhilfe angewiesen. Die polnische Beraterin Katarzyna Burzynska sagt: „Mariusz müsste einen Satz von 418 Zloty bekommen.“ Das sind 128 Euro – so viel, wie er allein an Unterhalt für seine Kinder zahlt. BEB