Clean, nur durch kontrollierten Umgang mit der Sucht? Ein Pilotprojekt der Drogenhilfeeinrichtung Palette verläuft erstaunlich erfolgreich.
(aus Hinz&Kunzt 162/August 2006)
Seit Timo mit 20 Jahren das erste Mal Heroin spritzte, baute er sein Leben um Drogen herum auf. Der 41-Jährige lebte jahrelang auf der Straße in der offenen Drogenszene. Oft versuchte er aufzuhören, machte Entgiftungen, bekam die Heroin-Ersatzstoffe Polamidon und Subutex. Nichts funktionierte, immer wieder wurde er rückfällig.
Jetzt sitzt er in seiner Wohnung auf St. Pauli, ein Zimmer, große Gemälde an den Wänden, Pflanzen auf der Fensterbank. Es ist aufgeräumt – obwohl er vorgewarnt hatte, nicht der Ordentlichste zu sein – und holt ein kleines Heft aus einer Schublade. Es hat einen dunkelblauen Einband mit Sternen drauf, ein Tagebuch, dem sonst Teenager ihre Träume anvertrauen. Dem schwer abhängigen Timo hat es aus seiner Sucht geholfen. Heute kann er sich vorstellen, als Ein-Euro-Jobber zu arbeiten.
Uwe Täubler und Carola Heinecke haben seit vielen Jahren mit Drogensüchtigen zu tun. Sie arbeiten in der Drogenhilfeeinrichtung Palette in der Schanze. Sie haben Etatkürzungen mitgemacht, sind an viele Rückschläge in der Therapie gewöhnt. Jetzt sitzen sie im Gruppenraum der Palette, auf zwei der im Kreis angeordneten Sesseln. Im vergangenen halben Jahr haben sie sich hier mit Timo und sieben anderen Süchtigen einmal die Woche getroffen. Uwe Täubler: „Mit dem Erfolg hätte niemand gerechnet.“ In der Palette wurde eine neue Therapieform ausprobiert, deutschlandweit ein Pilotprojekt. Die Methode heißt – im schönsten Therapeutendeutsch – Kontrolle im selbst bestimmten Substanzenkonsum (KISS).
Am einfachsten ist KISS zu verstehen, wenn man es mit dem Weight-Watchers-Konzept zum Abnehmen vergleicht. Zu Beginn der Therapie führen die Abhängigen genau Buch darüber, welche Drogen sie in welcher Menge nehmen. Statt der Punkte bei Weight- Watchers zählen bei KISS „Konsumeinheiten“. Eine Konsumeinheit entspricht einer bestimmten Menge Heroin oder einem „Stein“ Crack.
Das Suchttagebuch, das die Abhängigen dann führen, kann aussehen wie das von Timo. Mit Bleistift sind die Wochentage eingetragen, in den Zeilen darunter Subutex, Cannabis – aber auch Alkohol und Tabak. Denn KISS funktioniert auch bei legalen Drogen: „Wir hatten Tabak erst gar nicht auf dem Zettel“, erinnert sich Uwe Täubler, „aber mehrere Teilnehmer fanden es wichtig, auch ihren Zigarettenkonsum zu beobachten.“ Im nächsten Schritt planen die Abhängigen, wie viele Drogen sie in der kommenden Woche konsumieren wollen. Wenn am Wochenende eine Party ansteht, könnte mehr Konsum eingeplant werden. Das Ziel: sich über das eigene Konsumverhalten klar werden und es gezielt steuern.
„Meine Mutter hat immer gefragt, warum hört eine starke Frau wie du nicht einfach mit den Drogen auf?“, sagt KISS-Teilnehmerin Andrea. Dass Drogen so wichtig sind, um Schmerzen und Probleme zu betäuben, das war ihr nie klar zu machen. Jetzt sagen zu können, dass Drogen etwas sind, mit dem sie bewusst umgehen kann – dieser Perspektivenwechsel hat alles geändert: „Es bedeutet mehr Eigeninitiative, ich kann sagen, wie viel weniger Drogen ich für mich richtig finde.“
Damit alle sehen können, wie die Therapie bei den anderen verläuft, ist eine Tafel mit Kurven für den jeweils wichtigsten Stoff an der Wand protokolliert. Bei allen gehen die Kurven immer weiter nach unten, nur einer bricht die Therapie ab. Bei Timo ist sie schließlich ganz bei null. Simpel. Zu simpel?
„Es ist sehr hart, Drogenkonsum in den Griff zu bekommen“, betont Uwe Täubler. Bei den wöchentlichen Gruppensitzungen wird der eigene Drogenkonsum genau analysiert. Welche positiven und negativen Auswirkungen hat die Droge für mich? In welchen Situationen greife ich zu Drogen? Welche Strategien kann ich mir zurecht legen, um zu meinem Dealer „nein“ zu sagen? „Ich habe mich jedes Mal auf die Sitzungen gefreut, für mich war das ein Highlight der Woche“, sagt sogar Therapeuth Uwe Täubler. „Mit Menschen sprechen zu können, die die gleichen Erfahrungen machen wie man selbst, die aus ähnlichen Gründen zu Drogen greifen, aber auch ähnliche Erfolge haben – das motiviert“, stimmt Andrea zu.
Ob KISS auch bei anderen Süchtigen wirkt, ob der Drogenkonsum der Teilnehmer nicht nach Ende der Therapie wieder ansteigen wird, ist nicht sicher. Die Gruppe in der Palette ist die erste, die mit der Methode behandelt wurde, parallel lief eine KISS-Gruppe in Frankfurt, mit ähnlichen Ergebnissen. Noch ist es zu früh zu sagen, wie erfolgreich KISS auf lange Sicht wirklich ist. In der Palette beginnt die nächste Gruppe in wenigen Wochen. Und auch die Hamburger Drogenhilfeeinrichtungen Ragazza, Brücke und Subway werden die Therapie bald anbieten.
Timo führt sein Konsumtagebuch nicht mehr. Als er seinen Subutex-Konsum immer weiter gesenkt hatte, fragte er sich eines abends, wie es wäre, gar nichts mehr zu nehmen. Dann hat er sich kalt abgeduscht. Und ist seither clean.