Der neue Sozialsenator Dietrich Wersich über seine Kindheit, die Notwendigkeit von Bildung und das Prinzip „Fördern und fordern“
(aus Hinz&Kunzt 184/Juni 2008)
Er gilt als kompetent, durchsetzungsfähig und souverän, und als einer, der in der Lage ist, die Mammutbehörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz zu führen: Der neue Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) war dort schon zwei Jahre Staatsrat. Birgit Müller hat ihn in seinem Amtszimmer an der Hamburger Straße besucht.
Man merkt, dass die Fußball-Europameisterschaft ins Haus steht. Hamburgs neuer Sozialsenator Dietrich Wersich bedient sich eines sportlichen Vokabulars für sein sozialpolitisches Credo: „Ich sehe mich eher als Trainer. Der Sportler muss den Rekord laufen, nicht der Trainer. Der Trainer muss denjenigen unterstützen, diese Ziele zu erreichen.“ Gleichzeitig kritisiert der Hobby-Kicker: „Man neigt dazu, zu unterstützen, indem man Leuten etwas abnimmt. Das finde ich sozialpolitisch falsch. Man muss die Selbstverantwortung der Menschen stärken, ihnen helfen, dass sie wieder auf eigenen Füßen stehen können, alles andere schwächt sie nur.“
Allerdings müssten christliche Werte als Grundlage gelten: „Die Basisangebote für Hilfe und Überlebenshilfe dürfen nicht an Bedingungen geknüpft sein.“
Beißen kann er auch, zumal wenn es gegen die Sozialdemokraten geht: „Wir haben 30 Jahre Sozialpolitik hinter uns, die geglaubt hat, alleine durch die Vergabe von Geldern würden Probleme gelöst.“
Noch mal zurück zum Sport. „Sind Sie ein Teamplayer?“ Sekundenlanges Schweigen, dann lacht Dietrich Wersich: „Im Artikel steht jetzt bestimmt: ‚Bei dieser Frage zögerte der Senator.‘“ Dann wird er wieder ernst: „Ich bin berüchtigt für meine Eindringtiefe in die Vorgänge. Ich gucke genau hin und mische mich sehr stark ein, aber ich glaube, dass ich die Kolleginnen und Kollegen auch fördere und fordere. Und dass die Suche nach dem richtigen Weg sehr unter Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Behörde passiert.“
Da ist es wieder: „Fördern und fordern“, das umstrittene Motto der bisherigen Hamburger CDU-Sozialpolitik. In der Vergangenheit oft auch ein Synonym für Sanktionen und Kürzungen. Im neuen schwarz-grünen Koalitionsvertrag kommt es nicht mehr vor, vermutlich aus Rücksicht auf den grünen Partner. Wersich ist ein klarer Befürworter dieses Leitbildes: Sozialarbeiter, findet er, neigten oft dazu, weniger Anforderungen zu stellen als ihre Klienten selbst. Das habe er vor allem im Drogenbereich wahrgenommen. „99 Prozent der Drogenabhängigen wollen aussteigen“, sagt der 44-jährige Arzt. „Warum gelingt es uns nicht, die Leute dabei zu unterstützen? Da muss man sich selbst ehrgeizige Ziele setzen.“
Problematisch findet er die Haltung, dass man warten müsse, bis diejenigen „so weit sind“. „Das ist bei Jugendlichen und Jungerwachsenen, die auf der Straße landen, fatal“, sagt Wersich. „In einem Lebensalter, in dem andere ihre Ausbildung machen, ist Abwarten nicht hilfreich, da finde ich eine nachdrückliche Sozialarbeit vom Ergebnis her besser.“
Manches, was Wersich sagt, hört sich so an, dass man es unterschreiben wollte, sofort – wenn es denn helfen würde. Denn leider haben für manche Probleme weder die Schwarzen noch die Roten noch die Grünen bislang ein Patentrezept gefunden. Vor allem junge Menschen ohne Schulabschluss, Ausbildungsplatz oder Job, so die Erfahrungen von Hinz&Kunzt, sind in den vergangenen Monaten in Not geraten: Reihenweise fielen sie durchs soziale Netz, nicht wegen zu lascher Sozialarbeiter, sondern weil das Fordern eben ein Überfordern war.
Apropos Schule und Ausbildung: Wersich selbst hat sein Abitur auf einem der renommiertesten Hamburger Gymnasien gemacht, dem Johanneum. So einer hat wohl das Thema Armut nie kennengelernt, könnte man vermuten. „Da fangen die Vorurteile an“, sagt er gut gelaunt und erzählt, dass er aus einer kinderreichen Familie stammt und vier Brüder hat. „Ich hätte auf keine einzige Klassenreise mitfahren können, wenn wir nicht Unterstützung vom Schulverein bekommen hätten.“ Aufs Johanneum kam er erst in der siebten Klasse. „Wir kamen aus Lokstedt, die meisten aus den Walddörfern. In meinem Umfeld gab es nicht viele, die dorthin gegangen sind. Auf dem Johanneum musste ich komplett neu anfangen.“
Als vierter Sohn musste er immer die Klamotten seiner Brüder auftragen. „Ich war acht oder neun, als ich meine erste eigene Hose bekam, die war rot, damit lief ich stolz durch Lokstedt.“
Der Vater war mit 16 aus Schlesien geflohen und machte sich später als Garten- und Landschaftsbauer selbstständig. Die Mutter wäre gerne Lehrerin geworden, was aber wegen der Kriegswirren nicht klappte. „Für sie war immer das Thema Bildung wichtig, aber nicht nur Wissen draufschaffen“, sagt Wersich, dem die Eltern auch Klavierunterricht ermöglichten.
Werte wurden ihm zu Hause vermittelt. „Ich bin ein Familienmensch“, sagt er über sich selbst, und dass er immer schon gerne Verantwortung übernommen habe. Erst als Klassensprecher, später bei der Bundeswehr als Vertrauensmann der Mannschaften, wo er sich für mehr Urlaub und kürzere Arbeitszeiten einsetzte. „Früher hatte ich ein Helfersyndrom“, sagt der Sozialsenator.
Das hat vermutlich auch bei seiner Berufswahl eine Rolle gespielt. „Für mich stand nie zur Debatte, Augenarzt zu werden oder Arzt für einen kleinen Ausschnitt des Menschen“, sagt der überzeugte Allgemeinmediziner. „Ich wollte den Menschen immer ganzheitlich helfen.“
Aber auch wenn Wersich materielle Armut erlebt hat, sein Studium mit BAföG bestritt und dazuverdienen musste, indem er Kaffeesäcke im Hafen schleppte und im Büro jobbte – bei ihm mangelte es eben nur an Geld. Eine komplett andere Form der Armut als die, unter der viele Hamburger leiden: wo nicht nur das Geld knapp ist, sondern zu Hause niemand nach den Schularbeiten schaut oder schauen kann, wo die Eltern arbeitslos und hoffnungslos sind, wo die Eltern weder sprachlich mitkommen noch Werte vermitteln können, mit denen die Kinder in der Gesellschaft besser klarkommen.
Das sieht auch Dietrich Wersich. Aber gegen den Begriff „soziale Spaltung der Stadt“ wehrt er sich vehement. Obwohl erwiesen ist, dass in bestimmten Stadtteilen überproportional viele Hartz-IV-Empfänger leben, wird der sonst so zugängliche und charmante Christdemokrat an dieser Stelle fast heftig. „Natürlich ist es so, dass man in manchen Stadtteilen Arbeitslosigkeit, Schulden- oder Drogenprobleme ganz massiv antrifft, aber zu sagen, das sind schlechte Stadtteile oder der Stadtteil macht krank, führt genau zum gegenteiligen Effekt, der fördert die Spaltung. Es gibt dort auch viele Menschen, die Energie haben und sich im Stadtteil wohlfühlen. “
Der Senator weiß sehr wohl, dass „dort natürlich viele Menschen leben, die Hilfe brauchen, und dass es unrealistisch ist, Wilhelmsburg oder Billstedt in die Top Ten der Stadtteile zu befördern“. „Aber wenn ein Alkoholiker von Wilhelmsburg nach Winterhude umzieht, bleibt er trotzdem ein Alkoholiker. Man muss die Menschen da erreichen, wo sie Probleme haben.“
Sicher, sicher, aber da ist auch noch die Kinderarmut: 23 Prozent der Hamburger Kinder – also fast jedes vierte Kind! – leben von Hartz IV, und die sind nicht unbedingt in Winterhude oder Blankenese ansässig.
„Im Vergleich zu Großstädten, in denen nicht die Union regiert, haben wir die geringste Armutsquote“, sagt Wersich und verfällt sekundenlang in Wahlkampfrhetorik. Er zählt auf: Hannover, Bremen oder gar Berlin mit 39 Prozent, wo überall die Sozialdemokraten mit an der Regierung sind.
Ja, schon, Herr Sozialsenator, aber Sie sind für Hamburg zuständig, und jedes vierte oder fünfte Kind, ist das für das reiche Hamburg nicht zu viel?
Natürlich findet er das auch. Von klein auf müsse da Hilfe geleistet werden. Im schwarz-grünen Koalitionsvertrag mit den ressortübergreifenden Angeboten sieht er eine gute Grundlage: Kitabesuch ab zwei Jahren, intensive Sprachförderung – auch für Kinder mit deutschen Eltern. „Aber es kommt nicht nur auf die Kinderbetreuung an. Es nützt ja nichts, wenn die Kinder in dieselben häuslichen Verhältnisse und Konflikte zurückkehren“, sagt Wersich. „Da setzen die Eltern-Kind-Zentren an. Die meisten Eltern wollen ja liebevolle Eltern sein, aber viele haben keine Erfahrung, sie haben es selbst nicht erlebt und auch niemanden in ihrem Umfeld, der ihnen zeigt, wie das geht und sie unterstützt.“
„Bildung, Integration, Kompetenzförderung“ sind die drei Faktoren, die er in Sachen Armutsbekämpfung als vordringlich sieht.
Da ist er auch ganz zuversichtlich. „Bei den Migrantenfamilien haben wir einen deutlichen Anstieg der Inanspruchnahme der Kita“, sagt er. „Auch wenn wir da noch viel nachzuholen haben.“
An die jungen Menschen würde er am liebsten persönlich appellieren, „sich nicht hängen zu lassen und in die eigene Bildung zu investieren“. Er glaubt an einen „Aufstieg durch Bildung“. Aufgrund der demografischen Situation hätten wir auch keine französischen Verhältnisse zu befürchten. „Dort lebt in den Vorstädten eine ganze Generation, die keiner braucht“, sagt Wersich. „Das ist bei uns anders. Wir haben niemanden übrig. Kein Talent darf verschwendet werden.“
Birgit Müller
EINE STEILE KARRIERE
Der Vorgang war spektakulär: Staatsrat Dietrich Wersich (CDU), in der Wissenschaftsbehörde für den Bereich Gesundheit zuständig, wurde 2006 mitten in der Legislaturperiode in die Sozialbehörde berufen – und weil er als kompetent galt, durfte er seinen Bereich gleich mitbringen. Pikant: Die Gesundheitspolitik war erst kurz vorher aus der Sozialbehörde ausgegliedert worden – und kam jetzt nicht etwa wegen der Senatorin, sondern wegen eines Staatsrats wieder an die Hamburger Straße zurück.
HINTERGRUND
Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) war wegen der Protokollaffäre um die Feuerbergstraße ins Trudeln geraten. Gerade noch rechtzeitig hatte man ein Bauernopfer gefunden: den damaligen Staatsrat Klaus Meister (SPD). Der musste seinen Hut nehmen. Kluger Schachzug von Bürgermeister Ole von Beust: Mit Wersich holte er sich einen Mann an die Schaltstelle, der Ruhe in die Sozialbehörde bringen sollte und – wenn notwendig – die Geschäfte der Sozialsenatorin übernehmen könnte.
Insofern war es keine Überraschung, dass Ole von Beust ihn jetzt als Chef der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz berief. Wersich ist unverheiratet und lebt in Alsterdorf.