Sibel Kekillis Leben klingt fast wie ein Drehbuch: Fatih Akin machte sie über Nacht mit seinem Film „Gegen die Wand“ zum Star, ihre Familie verstieß sie wegen ihrer Vergangenheit als Pornodarstellerin. Jetzt zeigt die deutsch-türkische Schauspielerin im Kinodrama „Die Fremde“ die Tragik eines Frauenlebens zwischen zwei Kulturen.
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)
Plötzlich steht sie im Kino, als sei sie mal kurz von der Leinwand heruntergeklettert. Sie verbeugt sich, winkt ins Publikum, grüßt Einzelne. Eben noch war Sibel Kekilli die junge Frau mit Namen Umay, die 120 Filmminuten lang um ein selbstbestimmtes Leben kämpft, für sich und ihren fünfjährigen Sohn. Nun verebbt der Applaus, der Moderator räuspert sich, hebt das Mikrofon und stellt seine erste Frage: „Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie das Drehbuch lasen?“ Und Sibel Kekilli sagt: „Ich habe erst mal geweint, weil mich die Geschichte sehr berührt hat.“
„Die Fremde“ heißt der Film, und er erzählt die Geschichte von Umay, aufgewachsen in Deutschland, Kind türkischer Eltern. Sie lebt in Istanbul, ihr Mann schlägt sie, er drangsaliert das Kind. Heimlich flieht sie nach Berlin, wo ihre Familie wohnt, von der sie sich Schutz erhofft. Gleich die ersten Filmbilder machen klar, das wird keine lustige Geschichte, das wird ein Drama, an dessen Ende es nur Verlierer gibt.
Es ist keine reguläre Filmvorführung, sondern eine Extraschau, veranstaltet von der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“, für die sich Sibel Kekilli seit Jahren engagiert; als Botschafterin, als Schirmherrin, als Prominente, die sich so einsetzt gegen häusliche Gewalt, gegen Zwangsheirat, gegen die abstruse Vorstellung von „Familienehre“, die nichts anderes meint, als dass die Frauen sich ohne Wenn und Aber den Männern zu unterwerfen haben. „Ich mag diesen Film sehr“, sagt Sibel Kekilli: „Er ist nicht nur Schwarz-Weiß, er zeigt auch die Grautöne, nicht nur den bösen Vater und nicht nur den bösen Bruder.“
Sie sitzt jetzt an einem Restauranttisch, vor ihr steht eine Flasche Selters: „Die Umay, die ich spiele, sie war mir nicht immer sympathisch. Sie ist auf eine gewisse Weise auch sehr egoistisch, verzweifelt egoistisch; wie sie ihre Familie bedrängt, wie sie sie nicht in Ruhe lässt, wie sie nicht wartet, dass die Familie auf sie zukommt, das sind Momente, da verstehe ich sie nicht.“ Sibel Kekilli kennt das Leben zwischen zwei Welten: 1980 wird sie in Heilbronn geboren, drei Jahre zuvor sind ihre Eltern aus der Türkei nach Süddeutschland gekommen. Sie absolviert die Mittlere Reife, lernt Verwaltungsfachangestellte, arbeitet zwei Jahre im örtlichen Rathaus. Sie verlässt Heilbronn, zieht nach Essen. Jobbt, modelt, schlägt sich so durch. Dann ein scheinbar ganz banaler Tag in Köln: Sie schlendert durch die Fußgängerzone, bleibt vor einem Café stehen. Drinnen sitzt die Casterin Mai Seck, unterwegs für den Filmregisseur Fatih Akin, die weibliche Hauptdarstellerin für seinen neuen Spielfilm zu finden. Hunderte von jungen Frauen hat sie sich angeschaut, keine hat sie überzeugt. Und dann sieht sie Sibel Kekilli vor sich stehen, sieht, wie sie sich bewegt und weiß, dass sie die Richtige sein wird. Sibel Kekilli bekommt die Rolle und „Gegen die Wand“, hauptsächlich gedreht in Ottensen, wird nicht nur der Durchbruch für Fatih Akin: Sibel Kekilli spielt die junge Deutsch-Türkin Sibel, die pro forma einen Türken heiratet, um ihrer Familie zu entfliehen. Sie spielt, als habe sie in ihrem Leben nichts anderes gemacht, und das Publikum und die Filmkritik, sie sind überwältigt.
Höhepunkt des Erfolgs ist die Verleihung des Goldenen Bären auf der Berlinale 2004. Alles ist gut. Doch Tage nach der Preisverleihung enthüllt die Bild-Zeitung, dass Sibel Kekilli vor Jahren in Pornofilmen mitgespielt hat und zögert nicht, entsprechende Fotos abzudrucken. Ein gefundenes Fressen für die Billigpresse und das Billigfernsehen: Tagelang wird ihre Wohnung umlagert. Was weit schlimmer ist: Ihre Eltern brechen den Kontakt zu ihr ab. Bis heute.
Das ist lange her, das ist Vergangenheit, einerseits. Und andererseits muss es einem sofort einfallen, sieht man sie jetzt auf der Leinwand, wie sie in der Rolle der Umay mit ihren Eltern ringt, wie sie beides will: ein eigenes Leben führen und dafür den Segen ihrer Eltern und Geschwister erhalten, in deren Leben genau diese Möglichkeit für eine Frau nicht vorgesehen ist. Und sie spielt diese heraufziehende Katastrophe mit einer Wandlungsfähigkeit, die einem den Atem nimmt: Eben noch sitzt sie steif und verschüchtert, das Gesicht vom Kopftuch eingezwängt im Bus zum Flughafen, um später voller Energie und mit offenem, wehendem Haar durch Berlin zu schreiten. Oder wenn sie voller Zorn erbebt oder wenn sie sich verliebt und äußerst verlegen und äußerst charmant vor sich hin lächelt wie ein Schaf im Sonnenschein; ein Lächeln, das man für einen längeren Moment feststellen möchte, um es einmal in Ruhe zu betrachten – denn der nächste Tiefschlag folgt sogleich.
Das Schauspielern brachte sie nach Hamburg. Sie schwärmt von Ottensen, wo sie jetzt wohnt: „Ja, es ist meine Heimat. Ich fühle mich wohl hier. Es ist ein Dorf, wo jeder den anderen lässt, wie er ist. Was mir gar nicht gefällt ist, dass Altona immer mehr von Geld regiert wird – immer mehr große Ketten wie zum Beispiel Ikea verdrängen die kleinen Läden.“ Kämpferisch sagt sie das, entschlossen und energisch. So wie sie nicht zögert, ihre Grundsätze zu benennen: „Das Wichtigste ist doch, eine Meinung zu haben. Viele gehen durchs Leben und haben keine Meinung zu gar nichts. Das finde ich so schade, das gehört doch dazu, dass man sich immer hinterfragt.“
Sie macht eine kurze Pause, setzt nach: „Vielleicht ist es einfacher, oberflächlich durchs Leben zu gehen; vielleicht macht einen das erst mal glücklich – aber irgendwann holt einen das wahre Ich ein. Deshalb kam und kommt so ein Weg auch nie in Frage für mich. Dann doch lieber den steinigen Weg gehen und sich selbst gegenüber treu und ehrlich sein.“
Ist ihr etwas persönlich besonders wichtig? „Für mich ist es am wichtigsten, dass ich am Ende des Tages mein Spiegelbild angucken kann“, erklärt sie. In „Die Fremde“ gibt es genau diese Szene: Umays Mutter schaut in den Spiegel und ihr Blick sagt: „Was mache ich hier? Warum helfe ich nicht meiner Tochter? Nein, ich helfe ihr nicht.“ Und sie wendet den Blick ab.
Nervt es sie eigentlich, dass sie so oft auf die Rolle der Deutsch-Türkin festgelegt wird, auf harte, illusionslose Stoffe? Sie schüttelt den Kopf: „Ich freue mich, dass man mir solche Rollen zutraut. Ich verleugne ja nicht meine türkischen Wurzeln; ich fühle mich aber als Deutsche. Ich versuche aus beidem meine Vorteile zu ziehen.“ Ein nächstes Filmprojekt ist bereits in Planung, nach Irland soll es gehen. Sie war noch nie dort, sie freut sich drauf. „Es wird was ziemlich Verrücktes“, sagt sie, so wie sie überhaupt gerne mal in einem Animationsfilm mitspielen würde, was Ausgefallenes, Fantasy, ein Kinderfilm, eine intelligente Komödie. Und wieder blitzt ihr so charmantes Lächeln auf: „Ich glaube, ich kann auch ganz witzig sein.“