Der Psychologe Kazim Erdogan hat vor drei Jahren in Berlin-Neukölln die bundesweit erste Gesprächsgruppe für Väter türkischer Herkunft gegründet. Inzwischen findet er Nachahmer, auch in Hamburg.
(aus Hinz&Kunzt 214/Dezember 2010)
Hinz&Kunzt: Warum haben Männer mit türkischer oder arabischer Herkunft eigentlich einen so schlechten Ruf?
Kazim Erdogan: Bis Mitte der 80er-Jahre sind diese Menschen nie aufgefallen. Sie haben in den Fabriken zwei, drei, vier Schichten geschuftet, haben konsumiert, und Deutschkenntnisse waren nie Thema. Seit der Wiedervereinigung und dem Wegfall der Berlin-Subventionen sind hier 400.000 Arbeitsplätze für Ungelernte abgebaut worden. Die Männer sind arbeitslos geworden, und jetzt fallen sie auf. Und die Jugendlichen, von denen man redet: Manche gehen daran kaputt, dass sie nicht wissen, wohin sie gehören. Sind sie deutsch, türkisch oder kurdisch, oder was ist ihre Identität? Außerdem lassen viele Eltern den Jungs zu große Freiheiten, weil sie die Unterschiede nicht er-kennen zwischen einer deutschen Großstadt und dem Dorf, aus dem sie kommen. Hier gibt es ganz andere Gefahren, und gleichzeitig bleibt es oft unbemerkt, wenn man etwas anstellt.
H&K: Sind manche Jungs deshalb so aggressiv in der Schule?
Erdogan: Ich glaube, die Ursachen sind meistens Sprach- und Kommunikationslosigkeit. Wenn die Eltern nicht regelmäßig mit ihren Kindern sprechen und fragen: „Wie war die Schule, was hat dir gut gefallen, was war schlecht? Wunderbar, mein Sohn, und bitte, mach dies und jenes.“ Wenn sie sich dafür nicht interessieren, und wenn das Kind von zu Hause nicht gewohnt ist zu kommunizieren, dann kommt es zu solchen negativen Entwicklungen.
H&K:Was können Sie mit ihrer Vätergruppe denn tun, damit das besser wird?
Erdogan: Also, wir unterhalten uns über Familie, Bildung, Erziehung. Wir beschäftigen uns mit Alltagsfragen, zum Beispiel, wie man als alleinerziehender Vater seine Kinder gesund ernährt, aber auch mit Themen wie Drogen, Spielsucht, Gewalt und Hilflosigkeit. Wir reden über die Stellung der Frau in der Gesellschaft, über arrangierte Ehen und über die Frage „Was ist Ehre?“.
H&K: Da geht es doch sicher ziemlich kontrovers zu, oder?
Erdogan: Selbstverständlich gibt es Meinungsunterschiede. Das Bemerkenswerte ist, dass Väter, die am Anfang nicht mal die Geduld hatten zuzuhören, jetzt so weit sind, dass sie die Leute ausreden lassen. Sie rasten nicht sofort aus, sie schreien nicht rum, sie melden sich und warten, bis sie dran sind. Das sind die Elemente, die sie dann auch bei der Erziehung ihrer Kinder anwenden.
H&K: Reicht es denn, wenn 50 Väter sich ändern?
Erdogan: Diese Männer fungieren ja jetzt als Multiplikatoren, sie haben, wie soll ich sagen, „gesellschaftliche Sensibilität“. Sie gehen zum Elternabend, beteiligen sich und verteilen sogar Einladungen dafür. Sie putzen in der Schule, sie renovieren bei der katholischen Frauenberatungsstelle, und bei der Woche der Sprache und des Lesens haben sie die ganze Nacht auf der Open-Air-Bühne verbracht, damit nichts kaputt gemacht wird. Diese Männer sind bereit, überall Verantwortung zu übernehmen, und sie zeigen das auch.
H&K:Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese Vätergruppe zu gründen?
Erdogan: Zunehmend sind auch Männer mit Trennungen, Scheidungen und anderen schwerwiegenden Situationen konfrontiert. Für sie bleiben dann nur zwei Möglichkeiten: entweder in die Moschee gehen und hoffen, Allah möge die Probleme lösen. Oder sie gehen in Männercafés und trinken, spielen und schmieden ihre meistens negativen Pläne. Stattdessen muss man mit ihnen ins Gespräch kommen: Mit zwei Vätern habe ich angefangen und jetzt sind wir 50. Unser Jüngster ist 18 und der älteste 67. Die meisten sind Unterschicht, normale Arbeiter, einige inzwischen Rentner, viele arbeitslos. Und circa ein Drittel ist alleinerziehend, Tendenz steigend.
H&K: Was hat sich durch die von Sarrazin angestoßene Debatte um Integration für die Männer in ihrer Gruppe verändert?
Erdogan: Es vergeht kaum ein Tag, an dem mir nicht jemand erzählt, er wurde schief angeguckt. Und mir liegen sechs, sieben anonyme Briefe vor, in denen die Leute massiv beschimpft werden, bis hin zu Morddrohungen. Der Begriff „Integration“ ist für mich endgültig zum Schimpfwort geworden.
H&K: Wie meinen Sie das?
Erdogan: Wir tun so, als gäbe es keine Armut und keine Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft und alles wäre gut, wenn nur alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte perfekt Deutsch könnten. Dem kann ich nicht zustimmen. Ich bin der Meinung, dass die Menschen, die zugewandert sind, Deutsch lernen sollen, weil wir dann besser und menschlicher miteinander kommunizieren. Aber Integration muss sein: Sprache plus Bildung plus Ausbildung plus Arbeitsplätze plus Zukunftsperspektive. Wenn diese Kette nicht hergestellt werden kann, wird immer was fehlen.
H&K: Was können wir Deutsche ohne Zuwanderungsgeschichte tun?
Erdogan: Nicht stehen bleiben, sondern Menschen kennenlernen statt über sie zu urteilen. Ich habe auch dafür schon eine Idee, das soll ein bundesweites Projekt werden unter dem Namen „Kette der Kommunikation“. Jeder soll eine Stunde in der Woche mit Nachbarn, Kindern, Jugendlichen, mit Menschen mit anderen Zuwanderungsgeschichten kommunizieren. Die gemeinsame Sprache soll Deutsch sein, damit die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bei jedem Treffen fünf, sechs, sieben Wörter dazulernen.
Interview: Sigrun Matthiesen
Foto: Jørn Tomter
Der Verein „Kulturbrücke“ will in Hamburg eine ähnliche Gruppe ins Leben rufen. Start ist vermutlich im Februar 2011. Informationen unter www.kulturbrueckehamburg.de Infos über die Arbeit von Kazim Erdogan in Berlin unter www.aufbruch-neukoelln.de