Nguyen Phong Dien wurde als Kind im Vietnamkrieg verletzt und in Hamburg behandelt. Als Elfjähriger musste er zurück nach Vietnam, das ihm längst keine Heimat mehr war. Die Schriftstellerin Bruni Prasske hat seine Geschichte aufgeschrieben
(aus Hinz&Kunzt 196/Juni 2009)
Es war die schönste Zeit seines Lebens, hat Dien mir erzählt. Damals war er jahrelang im Krankenhaus Barmbek behandelt worden. Ein Granatsplitter steckte in seinem Rückenmark. Er war fünf Jahre alt und querschnittsgelähmt. Ein Kriegsopfer, das mit einer Gruppe anderer schwer verletzter Kinder in einer spektakulären Aktion von terre des hommes aus Vietnam nach Deutschland ausgeflogen wurde. Dien musste seine Familie, die feuchte Hitze seiner Heimat und alles Vertraute zurücklassen. Er war schwer verletzt. In Vietnam wäre er gestorben.
Am Heiligabend 1968 landete er in Deutschland und sah zum ersten Mal Schnee. Er biss hinein und erschrak über die Kälte. Die neue Umgebung machte ihm Angst. Er war umgeben von Menschen in weißen Kitteln, die in einer fremden Sprache auf ihn einredeten, ihn unentwegt abtasteten und Nadeln in seinen Körper stachen. Aber eines spürte er sofort: Sie wollten ihm helfen. Er wurde geliebt und umsorgt: von Frau Lohse aus Poppenbüttel, die er bald Mama nannte, von Schwester Marion von der Kinderstation und den Mitarbeitern von terre des hommes.
Seine alte Heimat war das Mekong-Delta im Süden Vietnams. Dort explodierten Bomben, und täglich starben Menschen im Krieg. Seine neue Heimat wurde Norddeutschland. Er verlernte sein Vietnamesisch, vergaß das Gesicht seiner Mutter und erfuhr erst Jahre später, dass sein Vater im Krieg umgekommen war. Die Hamburger fanden den asiatischen Jungen im Rollstuhl süß, und Dien liebte die Besuche in Hagenbecks Tierpark und die halben Hähnchen beim Wienerwald.
Nach sechs Jahren, 1974, schickte man den Elfjährigen zurück. Damals wütete der Vietnamkrieg in seiner Endphase. Er war ein deutscher Junge geworden, der seine neue Heimat und seine geliebten Betreuer und Freunde zurücklassen musste. Schlimmer noch: In Vietnam gab es nichts und niemand Vertrauten mehr. Seine Mutter war verschollen, die Mitarbeiter von terre des hommes wurden ausgewiesen, er landete in einem Waisenhaus in Saigon. Immer wieder schickte er verzweifelt Telegramme in das Dorf seiner Mutter: „Hol mich hier raus!“
Erst ein Jahr später erfährt die Mutter, dass Dien noch lebt und holt ihn zu sich – in eine primitive Hütte fernab der Zivilisation. Dann geht der Rollstuhl kaputt – Dien ist hilflos. Seine Rettung: terre des hommes kommt zurück nach Saigon. Dien fleht sie an, ihm einen Rollstuhl zu schenken. Der kommt – und mit ihm die Freiheit. Eigentlich müsste Dien im Dorf bleiben, aber er flieht förmlich – zurück nach Saigon.
Das alles hat Nguyen Phong Dien mir erzählt, und ich habe über ihn und sein bewegtes Leben ein Buch geschrieben. „Immer noch träume ich von Deutschland“ ist eine Geschichte über Krieg und Frieden, über Heimat und Erinnerung, über Hoffnung, Glaube, Vertrauen und Liebe. Das Buch erzählt aber auch die Geschichte von meiner persönlichen Annäherung an das Thema Behinderung. Nie zuvor hatte ich nähere Kontakte zu Rollstuhlfahrern gehabt. In Vietnam bin ich mit einem Mann auf Reisen gegangen, der von der Brusthöhe abwärts gelähmt ist.
Als ich Dien das erste Mal traf, waren die Straßen Saigons im
Februar 2007 für das kommende Jahr des Schweins geschmückt. Ich war nach Vietnam gekommen, um das Land kennenzulernen und an einer Geschichte über Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR zu
arbeiten. Dien sollte mein Stadtführer und Dolmetscher sein. Durch die Begegnung mit ihm änderte ich meine Pläne.
Dien hat mir Einblicke in sein schwieriges Leben als
Behinderter in Vietnam gegeben. Hier gilt sein Schicksal als Strafe Gottes. Wir sind auf den Spuren seines Lebens durch das Land gereist, und ich habe sein Heimweh nach Deutschland gespürt. Viele seiner querschnittsgelähmten vietnamesischen Freunde durften damals in Deutschland bleiben. Auch wenn Dien es selber nie so ausdrücken würde: In seinen Augen führen sie ein Leben in Wohlstand und Sicherheit. Dien lebt in einer einfachen Behausung, die man in Deutschland Garage nennen würde. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Uhrmacher.
Er habe diesen Beruf gewählt, weil er so das Gefühl habe, die Zeit manchmal rückwärts drehen zu können. Seine spartanische Wohnung ist gleichzeitig seine Werkstatt. Das quirlige Treiben der Großstadt gelangt bis in sein Wohnzimmer.
Dien hat sich eine Mobilität erkämpft, die für einen Querschnittsgelähmten in seiner Heimat keine Selbstverständlichkeit ist. Seit einigen Jahren fährt er ein dreirädriges Moped. Durch hartes Training und Geschick kann er sogar allein auf- und absteigen. Mit diesem Gefährt sind wir an den Mekong gereist.
Diens Energie scheint grenzenlos zu sein. Aber ich spürte
auch, welchen Mut es ihn kostete, über seine Vergangenheit zu
sprechen und sich zu offenbaren. Eine Quelle seiner unerschöpflichen Energie ist der Glaube. Als Jugendlicher hat er den Weg zur
Religion gefunden und ist – entgegen allen Gepflogenheiten – zum evangelischen Christentum übergetreten. Noch so ein Problem.
Denn die evangelische Kirche trifft auf zahlreiche Vorbehalte
innerhalb der Gesellschaft.
Dien ist nun wieder enger mit Deutschland verbunden, und auf seinem altersschwachen Computer verfolgt er sogar den Hamburger Wetterbericht. Dabei sehnt er sich nach frischer Luft und der angenehmen Kühle an der Elbe. In einer alten Hafenstadt am Südchinesischen Meer sagte er einmal zu mir: „Die Straßen von Husum an der Nordseeküste sagen mir mehr! Sie sprechen zu mir! Diese Gassen mit ihren Pagoden und Handelshäusern schweigen mich an.“ So ist Dien. Immer noch träumt er von Deutschland.
Dieser Traum ist nun in Erfüllung gegangen. Seit Ende April ist Dien für einige Monate in Deutschland. Wir werden der Öffentlichkeit unser Buch vorstellen, und Dien kann endlich mal durchatmen. Ich wünsche ihm einen Sommer mit frischer Luft, grünen Wiesen, kühlen Nächten, himmlischer Ruhe, Ausgelassenheit und ganz viel Spaß. Vielleicht kann er einen Teil seiner Kindheit zurückholen und der Enge seines Daseins und den Diskriminierungen in seiner Heimat entfliehen. Er möchte am Grab seiner ehemaligen Pflegemutter Frau Lohse beten und alte Freunde und Unterstützer wiedersehen.
Buch „Immer noch träume ich von Deutschland – Reise in ein Leben zwischen Deutschland und Vietnam“ (Verlagsgruppe Lübbe, 19,95 Euro) Weitere Informationen und Termine finden Sie unter www.bruni-prasske.de