(aus Hinz&Kunzt 182/April 2008)
Die Hamburgerin Susianna Kentikian boxt für das Land, das sie jahrelang ausweisen wollte. Nun kann die Doppel-Weltmeisterin Deutschlands neue Box-Königin werden
Sie ist in einem Meer kreischender Teenies verschwunden. Nicht einmal eine Locke ihres hoch gekämmten Haares taucht in dem Pulk vor dem Bürgerhaus Wilhelmsburg auf. Die 20-Jährige geht unter zwischen den 12- bis 14-jährigen Jungs und Mädchen, die ein Autogramm von ihr wollen. Nur ihr ehemaliger Boxtrainer Frank Rieth ragt heraus. Er hält seine Arme schützend vor die Boxerin, seit sie den Saal verließen.
Dort stand sie auf der Bühne und sah aus, als könnte sie einen Bodyguard gebrauchen. Mit 1,52 Meter Größe ist sie meist mindestens einen Kopf kleiner als die Honoratioren, die neben ihr stehen und zu „Box-Out“ eingeladen wurden, einer Aktion für Hamburger Schüler, die im Ring und im Leben kämpfen lernen sollen. Auf hohen Pumps winkt sie vom Bühnenrand aus den Jugendlichen zu.
Zwei Wochen später läuft sie in schwarzen Sportschuhen durch den Boxring der Alsterdorfer Sporthalle und trifft ihre Gegnerin immer wieder mit einem rechten Schwinger. „Susi! Susi!“, schreien die Zuschauer. Es ist 22.45 Uhr. In der dritten Runde reagiert ihre Gegnerin nicht mehr. Sie lässt die Arme hängen und bleibt stehen. Susi hebt die Rechte und schaut den Ringrichter fragend an. Der spricht ein technisches K.o. aus.
12 Uhr mittags, eine Woche darauf. Die Siegerin schiebt die schwere Eisentür in einem Wandsbeker Hinterhof auf. In der Halle des Universum-Boxstalls riecht es nach Schweiß und altem Leder. Auf dem Boden stapeln sich Hanteln, Sandsäcke schwingen unter den Schlägen muskulöser Männer. Das ist Susis Arbeitsplatz. Im schwarzen Ledermantel, mit Wollmütze und Schal, begrüßt sie jeden mit Handschlag oder Kuss.
Susi geht durch die Umkleiden und öffnet eine Tür. Wäre das Besprechungszimmer eine Boxarena, würde jetzt ihre Einmarschmusik erklingen: „Killer-Queen“ von Queen. So aber setzt sie sich auf die Kunstledercouch und spricht anderthalb Stunden über sich – und ihre Namen. „Mir fallen mindestens zwölf ein“, sagt sie und schreibt die Kosenamen auf, die Freunde für sie fanden: Susik, Mishka, Suska … Sie zu siezen fällt schwer. Oder sie mit dem Nachnamen anzusprechen. Den gibt es ja auch noch: Kentikian. Oder Kentikyan. Es scheint, als hätte sie so viele Namen wie Identitäten. K.o.-Königin und kleine Susi. Armenierin und Hamburgerin. Das alles bliebe unbekannt, wäre sie nicht Doppel-Weltmeisterin im Fliegengewicht, für ein Land, das sie ausweisen wollte.
Alsterdorfer Sporthalle, Ende Februar: Scheinwerfer beleuchten die Arena, Susi steht im glitzernden Mantel im Boxring. Pro 7 überträgt live. Ein Nummerngirl entrollt vor ihr die schwarz-rot-goldene Fahne. Die deutsche Na-tionalhymne erklingt, „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Trainer Magomed Schaburow steht hinter ihr. „Man muss den Körper des Gegners lesen“, sagt er gerne. Susi presst die Lippen aufeinander, zieht die Kapuze ab, schlüpft aus dem Mantel. Die Hymne endet. Ihre Augen glänzen, aber das muss von den Scheinwerfern kommen, vom gleißenden Licht.
„Deutschland hat mir die Möglichkeit geschaffen, dass ich erfolgreich boxen kann, und ich kämpfe für euch.“ Zum ersten Mal ist sie Frau Kentikian. Ihr Lachen ist verschwunden. Kentikian ist dankbar: Sie wird in großen Sportarenen im ganzen Land gefeiert. Als sie noch Asylbewerberin war, sollte sie aus diesem Land abgeschoben werden. „Das tut ein bisschen weh im Herzen.“
Susi ist acht, als sie nach Hamburg kommt. Da hat sie bereits eine drei Jahre lange Odyssee hinter sich. Die Familie floh aus Armenien vor dem Krieg um die Region Berg-Karabach. Susi muss mit fünf Jahren über Grenzen gehen, nach Deutschland, Moldawien, Russland, und neue Sprachen lernen. Als sie erneut in die Bundesrepublik kommt, diesmal an die Elbe, lebt die Familie in einem Zimmer auf dem Hamburger Wohnschiff für Asylbewerber, der Bibby Altona. Viele der Bewohner berichten von Enge, Ungewissheit und Gewalt, die sie auf dem engen Raum erleben. Kentikian nicht. „Als wir zur Bibby Altona kamen, haben wir nichts anderes erwartet. Man gewöhnt sich daran. Das gehört dazu.“ Sie schaut unter ihrer Mütze hervor, ihre Hände schweben in der Luft – und fallen wieder in den Schoß. Lies den Körper: Es ist vorbei.
Geboren wurde sie am 11. September 1987 in Eriwan als Syuzanna. Als sie den Namen ausspricht, klingt es wie „Süsanna“ und die Sonne geht bei ihr wieder auf. Syuzanna strahlt, auch wenn der Name nach Vergangenheit klingt. Nur die Verwandten aus Armenien kennen ihn noch. Auf der Wanderung passte sich der Name an und wurde zu Susianna. Auch der Familienname Kentikyan wandelte sich, das y wurde zum i. Es sind die letzten erkennbaren Häutungen auf dem Weg nach Deutschland. Er ist steinig und lang.
Im September 2001 dringen Beamte der Ausländerbehörde frühmorgens in das Zimmer der Familie ein. Um 12 Uhr soll das Flugzeug zurück nach Eriwan starten.
„Es war ein kleiner Kampf“, sagt Kentikian heute dazu. Es war der größte Kampf ihres Lebens. Ohne das Boxen wäre er anders ausgegangen.
Kentikian hebt die rechte Faust und boxt ein wenig in die Luft. „Ich hatte immer so viel Energie, ich wusste nicht wohin damit“, sagt sie. Die Erinnerung kommt wieder. An die Zeit in Moldawien, als sie sieben war und auf der Straße mit anderen Kindern spielte und nach Hause kam, mit einem Fleckchen hier – sie zeigt auf die Stirn – und einem Kratzer da – ein Finger wandert über die Wange. „Es gab ständig Beulereien“, sagt sie und lacht. „Ich hab mir nie was sagen lassen. Ich war ein kleines freches Mädchen. Ich konnte meine Kräfte nie kontrollieren!“ Lächelnd hebt Kentikian die Arme.
Mit zwölf Jahren sucht sie in Hamburg nach einem Sport für sich und ihre Energie und findet keinen. So begleitet sie ihren Bruder Mikael nach Bahrenfeld zum Sportverein BSV 19. Dort boxt er. Susi ist wie elektrisiert.
Kontrollierte Energie. Eine Körpersprache, die jeder versteht. Linker Haken, rechter Schwinger. Klare Grenzen in einem quadratischen Boxring. Das ist ihr Land. Susi ist angekommen.
„Sie hatte von Anfang an einen unglaublichen Biss“, sagt Frank Rieth. Als sie 1999 in den BSV 19 kommt, gibt er dem Mädchen die ersten Boxhandschuhe. Selbstverständlich ist das nicht. Vier Jahre zuvor war Vereinsboxen für Frauen in Deutschland noch verboten. Erst 1995 bekamen sie vom Amateurboxverband das Wahlrecht auf einen Kampf.
Der 45-Jährige trainiert Susi, bis sie zum gefährlichsten Fliegengewicht Deutschlands wird. Von Beginn an ist sie so stark, dass sie im Sparring fast nur gegen Jungs boxt. Damit sie für ihre Kämpfe überhaupt noch Gegnerinnen findet, macht sie sich manchmal schwerer, als sie ist. Einmal bindet sie vor dem offiziellen Wiegen Gewichtsmanschetten um die Fuß-gelenke und überdeckt sie mit ihrer langen Trainingshose. So darf Susi gegen eine Gegnerin kämpfen, die fünf Kilo mehr wiegt als sie. Susi gewinnt.
Als die Ausländerbehörde die 14-Jährige und ihre Familie ausweisen will, organisieren Trainer Rieth und der Anwalt der Familie innerhalb von Stunden eine Kampagne dagegen. Auch der Vorsitzende des Petitionsausschusses der Bürgerschaft, Wolfhard Ploog, unterstützt sie. Die Aktion gelingt. „Nach Jahren rigider Ausländerpolitik des Senats war Susis Familie eine der ersten, bei der sich die Praxis lockerte“, erinnert sich Ploog.
Das befristete Bleiberecht muss jedes Jahr erneuert werden. Jedes Jahr müssen die Kentikians nachweisen, dass sie es verdient haben, in diesem Land zu leben.
Die Familie beantragt nicht einmal Wohngeld, das ihnen zustehen würde. Der Vater verdient Geld, in dem er Toiletten reinigt. Susi putzt am Wochenende das Sportstudio, in dem sie unter der Woche trainiert. Mit dem Geld hilft sie, die Familie zu ernähren. Wie Susi sich motiviert hat? „Ich habe mir ständig gesagt: Gib nicht auf, gib nicht auf, mach weiter. Deine Zeit kommt noch.“ Mit 14 wird sie Hamburger Meisterin, mit 17 noch einmal. Ende 2004 erhält Familie Kentikian ein dauerhaftes Bleiberecht. Die sportliche Karriere von Susianna ist ein wesentlicher Grund für die gute Sozial-prognose, die das Asylrecht fordert.
Im Besprechungszimmer des Universum-Boxstalls schaut sie hoch. Kann sie dem Satz „Ich habe meiner Familie Glück gebracht“ zustimmen? Sie schüttelt den Kopf. „Ich sage nie ich. Ich sage immer wir.“ Kentikian greift an die Anhänger ihrer Halskette. Das magische Auge in Silber hat sie von ihrer Mutter, die kleinen Boxhandschuhe vom Vater. „Ich habe vieles von meinem Vater und von meiner Mutter: Ehrgeiz, Wille. Wir haben uns gegenseitig Glück gebracht.“
Durch die Trainingshalle hinter dem Besprechungszimmer dröhnt laute Musik. „Schachmatt – durch die Dame im Spiel“, singt Roland Kaiser. Bald wird Susi wieder Sparring machen, wieder meist mit Männern. Seit sie 2005 vom Universum-Ableger Spotlight als Profi unter Vertrag genommen wurde, gewann sie alle 20 Kämpfe, 15 davon durch K.o. Aber das reicht nicht, um ein Star zu werden. „Jeder Boxer braucht eine Story“, sagt Universum-Chef Klaus-Peter Kohl. Bei Susianna Kentikian sind es die Hindernisse, die sie überwand. Seit sie im Februar 2007 ihren ersten Weltmeister-Titel holte, läuft ihre Story durch die Zeitungen der ganzen Republik: „Kampfname: Killer-Queen“ titelt die Frankfurter Rundschau, „Hart wie das Leben“ (Berliner Zeitung), „Hamburgs Million Dollar Baby“ (Die Welt). Für alle ist sie „die kleinste Profiboxerin Deutschlands“.
Seit sie im Profigeschäft boxt, tritt Susi bei Stefan Raab auf, besucht Benefizveranstaltungen – sie muss auch für den Wiedererkennungswert arbeiten, der für jeden Star wichtig ist. Den Kampfnamen „Killer-Queen“ dachten sich die Programmstrategen von Pro 7 aus. „Ich habe nichts dagegen, aber auch nicht viel dafür. Es muss halt verkauft werden.“ Vor dem Kampf motiviert sie die Einmarschmusik zu wenig. Kentikian wiegt ihre Hände im Dreivierteltakt: „Kil-ler Queen, Kil-ler Queen … Am Anfang bin ich immer eingeschlafen.“ Sie seufzt. „Ich hätte gerne mehr Bass und Schlagzeug, damit alle aufwachen, ich boxe ja immer so spät.“ Jetzt lässt sich Kentikian eine eigene Hymne schreiben. Schließlich will Susi die neue deutsche Box-Königin werden.
Seit Kentikian vor drei Monaten ihren zweiten Weltmeistertitel holte, trägt sie den Gürtel, den ein Jahrzehnt lang Regina Halmich trug. Die Koblenzerin machte das Frauenboxen in Deutschland erst salonfähig. Doch die Gunst des Publikums wollen auch Kolleginnen aus anderen Gewichtsklassen erringen. Susi muss weiter kämpfen.
Am 9. Mai trifft sie auf die nächste Gegnerin, in Halle an der Saale. Verliert sie, muss sie von vorne anfangen. Diese Gefahr begleitet sie immer. Will sie sich davon erholen, geht sie shoppen. Keine Tasche ist vor ihr sicher. Mehr als 50 weiße, braune, rote, bunte Beutel stapeln sich in der Wohnung, in der sie mit ihrer Familie lebt. Der Vater ist Vorarbeiter geworden. Der Bruder arbeitet im Bundeswehrkrankenhaus. Gemeinsam leben sie im ruhigen Rahlstedt. Susi – eine junge Hamburgerin. Einen deutschen Pass bekommt sie bislang nicht.
Den Einbürgerungstest bestand sie bereits im vergangenen Jahr. Seitdem prüft das Bundesinnenministerium, ob sie vorzeitig eingebürgert werden soll – es muss ein öffentliches Interesse bestehen. Ob sie den deutschen Pass bekommt, ist noch nicht entschieden.
Susis widersprüchliche Identitäten bringen ihr Erfolg. Eine Frau in einer Männerbastion, eine Shopping- und Killer-Queen. Lies den Körper: Ich integriere das für euch. Jetzt müsst ihr nur noch mich integrieren.
„Wenn ich es schaffe, könnt ihr es auch schaffen“, ruft Susi den jubelnden Mädchen und Jungs im Bürgerhaus Wilhelmsburg zu. „Gebt alles!“