Der Autor und Regisseur Axel Brauns über seine Wahrnehmung als Autist und wie er lernte, Gefühle zu empfinden
(aus Hinz&Kunzt 161/Juli 2006)
Axel Brauns wartet schon im Eimsbütteler Café Strauß, ein rundlicher Riese mit sanftem Kindergesicht. Doch der harmlose Eindruck täuscht: Nachdem er ein überwältigend großes Frühstück zu seiner Cola light bestellt hat, legt er wie eine Naturgewalt los. Charmant, witzig und mit ungeheurer Detailkenntnis redet er fünf Stunden ohne jede Ermüdungserscheinung. Gar nicht so einfach, mal selbst zu Wort zu kommen.
Hinz&Kunzt: Wie fühlst du dich als Autist?
Axel Brauns: Ich bin als Ein-Mann-Armee unterwegs gegen sechs Milliarden Menschen. Jeder muss in dieser kapitalistischen Welt kerngesund sein. Schwäche darf man sich nur erlauben, wenn man gute Freunde und Familie hat, aber gesund zu sein ist wichtig. Da setzt für mich als Künstler die Frage an: Wer hat eigentlich den letzten Krieg gewonnen, die Nazis oder die Alliierten? Den Krieg der Panzer haben sie verloren, obwohl sie die besseren hatten, aber den Krieg der Kulturen gewinnen sie gerade. Deutschland tut sich schwer mit seinen Behinderten.
H&K: Woran machst du das fest?
Brauns: Wenn man so einen Film wie „Der siebte Tag“ dreht, gewinnt man auch die Goldene Palme in Cannes. Wichtig ist dabei, dass der geistig Behinderte am Ende tot ist, er begeht mit Schokolade Selbstmord. Dann hat der geistig Behinderte das getan, was die anderen Menschen nicht tun wollen, nämlich ihn umbringen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Das Beste ist, wenn man als Trottel erkennt, dass man geistig behindert ist, und sich selbst umbringt. Dann fühlen sich die anderen wohl. Und dann fragen mich die Leute, warum ich diesen Film nicht gern geguckt habe.
H&K:Du klingst ganz schön bitter.
Brauns: Man sollte sich darüber freuen, in einer Welt zu leben, in der es geistig Behinderte gibt. Jedes Mal, wenn ich einen Menschen mit Down-Syndrom sehe, freue ich mich. Denn ich weiß, ich lebe in einem Land, wo es kalte Euthanasie gibt, wo 90 Prozent der Downter nicht mehr geboren werden. Wenn es einen Gentest gäbe auf Autismus, würde man diesen auch anwenden, weil Autismus als Störung für die Familie noch schlimmer ist als das Down-Syndrom.
H&K:Wie wäre es dir in der Nazizeit ergangen?
Brauns: Axel Brauns, 1938 geboren, wäre schwerst euthanasiebedroht gewesen. Axel Brauns, Jahrgang 1927, wäre ein tadelloser Flakhelfer geworden. Axel Brauns, Jahrgang 1921 hätte einen tadellosen SS-Lagerbewacher abgegeben und hätte keine emotionalen Schäden gehabt. Hätte man ihn nach Kriegsende interviewt, hätte man entdeckt, dass er keinerlei moralische Skrupel hat, weil er keinen emotionalen Schaden davonträgt von dem, was er getan hat. Ich glaube, dass Traumatisierung daraus erwächst, dass man weiß, was ein Mensch ist. Wenn man in einer Welt lebt, in der es keine Menschen gibt, dann kriegt man keinen Seelenschaden davon, dass man Papierkörbe von der Wand reißt. Ich hätte gut und böse nicht unterscheiden können. Das kann man nur, wenn man in einer Demokratie groß wird und Emotionen hat.
H&K:Du hast, um als Regisseur arbeiten zu können, Gefühle gelernt wie eine Fremdsprache. Was reizt dich an diesem Beruf?
Brauns: Im September 1996 habe ich ein ganz wichtiges Erlebnis gehabt. Ein Nachbarsjunge, Walter Lindenlaub, war Kameramann bei „Independence Day“. Ich hab mir das angeschaut, war begeistert und wusste sofort, dass ich das auch machen wollte, Popcornfilme in Hollywood drehen, weil ich das viel besser kann! Denn als Autist, der in seiner frühen Kindheit von zwei bis fünf Jahren in einer sprachlosen und am Ende spracharmen Welt gelebt hat, habe ich in Bildern gedacht, in Bildern gelebt, und bin so fürs Drehbuchschreiben prädestiniert. Ich erzählte also voller Freude meiner Mutter und meinem Bruder von meinem großen Traum. Meine Mutter hat das mit den Augen des Realismus gesehen. Ich war damals 33, hatte ein Jura- und BWL-Studium abgebrochen, lebte seit zwölf Jahren als
Schriftsteller teils in Berlin, teils in Hamburg, hatte noch nie etwas veröffentlicht, finanzierte mich selbst mit Arbeit in der Rätselredaktion und lebte vorzugsweise nachts. Ich hatte keine Frau, keine Kinder, keine Freunde, und ich vermisste das alles auch nicht. Da war eindeutig für die beiden, was wahre Regisseure können und was Axel kann, passt nicht zusammen. Meine Mutter sagte fassungslos zu meinem Bruder: „Jetzt ist er völlig verrückt geworden.“ Diese dritte Person, das hat mich getroffen, denn ich stand nur zwei Meter daneben.
H&K:Entmutigt hat dich das nicht.
Brauns: Ich habe gedacht, mal sehen, ob ich Recht habe, es ist ja viel schöner, Recht zu haben, als dass man falsch liegt. Ich habe also alles gelesen, was ein Regisseur können muss. Da sind mir die Augen aufgegangen, der muss ja all das können, was ein Autist nicht kann. Autist zu sein und Regisseur zu sein schließt sich aus. Ich begriff auch, warum ich so abgefahren war auf den Wunsch, Regisseur zu werden. Es gibt diesen Traum, weltgewandt zu sein, ein tiefgehender Wunsch, der mein ganzes Leben bestimmt. Eines hatte ich begriffen: Wenn ich als Regisseur bei der Oscar-Verleihung auf dem roten Teppich langgehe, bin ich weltgewandt.
H&K:Wie sollte das funktionieren?
Brauns: Da ich nicht nur der einfältige Autist, sondern sehr gebildet und belesen bin, hab ich begriffen: Ich brauche eine Ausbildung. Axel, du bist 33, du hast keinen Fernseher, warst nicht im Kino, hast wenig Filmbildung, hast nie einen Film gedreht, und noch schlimmer, du hast noch nicht mal fotografiert. Ins Theater bist du nie gegangen, weil es dich zu sehr verwirrt. Deine Chancen, eine Aufnahmeprüfung mit einer Mappe zu bestehen, sind gleich null, weil es keine Mappe gibt. Da war dieser Traum eigentlich vorbei, aber was für eine Eigenschaft muss ein Regisseur haben, was für eine Triebfeder, damit man durchkommt auf den roten Teppich? Besessenheit. Da setzte es ein, dass ich als Autist viel mehr Willenskraft habe als andere Menschen. Ich wollte, dass man sagt: Axel ist weltgewandt. Und wenn das die Triebfeder ist, dann sollte man überprüfen, gibt es was, was du zu erzählen hast als Künstler?
H&K:Wie hast du dich auf diese Aufgabe vorbereitet?
Brauns: Ich habe gewusst, dass ich meinen Geist unter Druck setzen muss. Wenn ich nicht in der Lage bin, Gesichter wahrzunehmen oder Augen zu erkennen, dann muss ich es trainieren. Ich hatte nur Kontakt zu meiner Mutter und meinem Bruder. Aber wenn man nie Gesichter anguckt, dann kann man auch nie besser werden.
H&K:Nach welchen Kriterien hast du deine Trainingsfilme ausgesucht?
Brauns: Meine Aufgabe war Verliebtsein, Liebe als Gefühl, ich musste mir mal einen richtigen Mädchenfilm angucken, solche, die meine Mutter gern mag, „Sense and Sensibility“. Ich habe mir zuerst die Musik besorgt. Dann war es auch wichtig, den Originalroman zu lesen. Ich habe das Drehbuch auf Englisch gelesen, zwei Biografien von Jane Austen und bin dann ins Kino gegangen. Links und rechts von mir saßen Frauen, die weinten während des Films. Ich fühlte mich da ausgeschlossen, für mich war der Film so trocken wie ein Chemieunterricht. Ich war enttäuscht – ich hatte mich in der Vorbereitung so angestrengt, und es war so wie immer.
H&K:Das ist ja deprimierend.
Brauns: Ich hab mir das Drehbuch noch mal auf Englisch vorgenommen, da gab es eine Szene, die hatte Regisseur Ang Lee herausgelassen. Als die beiden Liebenden, die sich nicht kriegen können, sich doch die Hand reichen und er den Heiratsantrag macht, da hab ich so ein ganz angenehmes, zartes Gefühl in meiner Brust. Ich lese die Seite noch mal, das Gefühl taucht wieder auf! Ich habe das viele Male wiederholen können, und jedes Mal bin ich glücklich, dass die beiden sich finden.
H&K:Du kannst also doch Gefühle wahrnehmen?
Brauns: Ich kann Gefühle wahrnehmen, aber sie müssen schon als Starkstromgefühle auftauchen. 220 Volt sind zu wenig, da schmort bei mir nichts an. Das kann zu Anfang holzschnittartig sein, was mich erreicht, aber Autisten nehmen klare Grundgefühle gut wahr, Wut, Ekel, Traurigkeit, Angst, Freude. Man ist sich in Forscherkreisen nicht einig, welche angeboren und welche erlernt sind. Aus diesen Grundgefühlen setzen sich alle höheren Gefühle zusammen. Wenn man wissen will, was Eifersucht ist, sollte man vorher wissen, was Liebe ist.
Misha Leuschen
Axel Brauns: Geboren am 2. Juli 1963 in Hamburg. Mit zwei Jahren verlor er seine Sprache, die Welt verschwand, er wurde zum Autisten. Trotzdem schaffte er das Abitur. 2002 wurde sein erstes Buch veröffentlicht, „Buntschatten und Fledermäuse“, das für den Deutschen Bücherpreis nominiert wurde. Danach erschienen weitere Bücher. 2004 drehte er seinen ersten großen Spielfilm „Tsunami“. Der Autor und Filmemacher lebt in Hamburg.
Autismus ist eine tief greifende Beziehungs- und Kommunikationsstörung, die meist bis zum dritten Lebensjahr auftritt. Autistische Kinder können zu anderen
Menschen kein normales Verhältnis aufbauen, sie können Gesten, Wörter oder Mimik nicht verstehen und kapseln sich ab. Auf Veränderungen reagieren sie sehr erregt, sie wiederholen stereotyp immer dieselben Verhaltensweisen, können Gefahren nicht erkennen und meiden Körperkontakt. Die Ursachen für Autismus sind noch immer nicht völlig erforscht.