Als Kind wurde Evelyn Glennie fast taub, und keiner traute ihr eine Karriere als Musikerin zu. Trotzdem beschloss sie, Solo-Percussionistin zu werden. Mit Erfolg: Glennie ist heute eine weltweit gefeierte Schlagwerkerin. Jetzt tritt die Britin in Hamburg auf.
(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)
In einem Dorf nördlich von London ist nur das ferne Rauschen einer Autobahn zu hören, die Glocken der Kapelle am Ende der Straße schweigen. In einer Backsteinvilla, hinter einer Tür mit einer roten Rose aus Glas, wohnt die Frau, die von der amerikanischen Branchenfibel „Musical America“ zur Instrumentalistin des Jahres 2003 gekürt wurde.
„Kein Percussionist, auch keine Percussion-Gruppe, kann sich mit den Leistungen von Glennie messen“, urteilen Kritiker. Sie gastiert in den Musiksälen von New York bis St. Petersburg, trommelt mit Stardirigenten wie Sir Georg Solti, tritt mit Björk bei MTV auf, spielt mit Sting und bekommt dafür alle wichtigen Auszeichnungen inklusive zweier Grammys. Und mehr noch: Mit ihrem Groove bringt sie die Traditionen der klassischen Musik zum Einsturz. Sie lässt sich von zeitgenössischen Komponisten mehr als 160 Trommelstücke schreiben, führt sie zusammen mit Symphonie-
Orchestern auf, und gibt damit der Percussion das, was Klavier und Geige seit Jahrhunderten zelebrieren: einen Solo-
Auftritt im Konzertsaal. Das hatten sich Mozart und Brahms damals nicht träumen lassen.
Nun tritt die 44-Jährige in der Hamburger Laeiszhalle auf, wo sie unter anderem Werke von Steve Reich und Antonio Vivaldi spielt. Für die „New York Times“ ist sie „einfach ein Phänomen“, für den „Guardian“ hat sie „hypnotische Qualitäten“. Für die Berufsberater, die sie mit 14 Jahren in der Schule besuchten, war sie nicht fähig, Musikerin zu werden. Schließlich ist sie fast taub.
Ein Mann mit Fernfahrerschnauzer öffnet die Tür ihres Backsteinhauses und weist den Weg zum Wohnzimmer. Stumme Klangmacher säumen den Weg zur Couch, eine Gongfamilie baumelt an der Wand. Evelyn Glennie kommt fast lautlos herein. Lachend sagt sie „Hello“ und nimmt auf dem Klappstuhl neben dem Sofa Platz.
Woran sie heute arbeitet? Evelyn Glennie liest die Frage von den Lippen ab. Dabei scheint sie einem weiter direkt in die Augen zu blicken, als käme die Frage von dort. „Gerade sollte ich in anderthalb Minuten Musik zeigen, wer ich bin“, sagt sie. „Ein Filmteam von BBC war zu Besuch für ein Künstlerporträt.“ Wuuuusch. Glennies rechte Hand saust durch die Luft wie ein Windstoß. „Diese Bewegung sagt alles“, erzählt sie. „Sie steht für den Klang, den jeder für sich mit Leben füllen kann.“ Sie hebt die Hände: „Aber die Filmer ließen mich das nicht machen. Also nahm ich ein paar Instrumente und improvisierte.“
Das Talent dazu musste sie lange beweisen. Evelyn wird als jüngstes von drei Kindern auf einem Bauernhof im Nordosten Schottlands groß, ein gesundes Nesthäkchen, das von ihren Eltern in den Musikunterricht geschickt wird. Evelyn spielt Klavier, Klarinette, Blockflöte. Mit acht Jahren hört sie plötzlich schlecht. Eine rätselhafte Krankheit schluckt die Geräusche. Töne bis zu einer Lautstärke von 95 Dezibel kommen bei ihr nicht mehr an, als sie zwölf Jahre alt ist. Genau in diesem Alter muss Evelyn einen Musiktest in der Schule machen und Töne bestimmen. Es geht nicht. „Sie sagten: ,Das kannst du nicht machen, Musik.‘“ Ihr Kopf reckt sich: „Ich fragte: ‚Warum nicht?‘ Sie antworteten: ‚Weil du taub bist‘, blablabla.“ Glennie wischt sich eine Strähne aus dem Gesicht: „Es ist wohl eines der kriminellsten Dinge, die man einem a nderen sagen kann: Das kannst du nicht.“
Heute verdient sie mit ihrer Musik so viel, dass sie drei Mitarbeiter beschäftigt, die in dem Zimmer neben der Diele sitzen und von dort aus ihre jährlich mehr als 100 Konzerte organisieren und die Website pflegen.
Weil sie so schlecht beim Musiktest der Schule abschneidet, soll sie keinen Percussion-Unterricht bekommen. Der Orchesterleiter will nur den guten Kindern eine Chance geben. Doch Ron Forbes, Lehrer für Percussion in Nordschottland, hat eine Idee. Sie soll sich mit dem Gesicht zur Wand stellen, barfuß, er schlägt die Trommel. Tatsächlich: Die Vibrationen der tiefen Töne spürt sie an den Beinen und Füßen, die hohen vom Bauch bis zum Kopf. Mit der Zeit kann sie jeden Ton fühlen, egal von welchem Instrument. Sie hört einfach auf ihren Körper. „Hören ist eine Form des Berührens“, sagt sie. Der Körper wird zu ihrem Instrument.
Mit 15 Jahren beschließt Evelyn, Solo-Percussionistin zu werden. Sie weiß nicht, dass es diesen Beruf nicht gibt. Aber die anderen wissen ja auch nicht, dass sie diesen Beruf einfach erfinden kann. „Je mehr die Leute mir sagten, das kannst du nicht“, erzählt Glennie, „desto stärker wuchs ich innerlich.“
Mit 17 schafft sie die Aufnahmeprüfung zur Royal Academy in London und führt dort zwei Jahre später das erste Konzert in Solo-Percussion auf, das es je in der Musikhochschule von 1822 gegeben hat. Das Stück „Veni Veni Emmanuel“ bringt den Durchbruch. „Sie alleine hat die Idee einer Solo-Percussion in die Musikwelt gebracht“, sagt Dirigent Leonard Slatkin. Trommelwirbel Glennie überwindet alle Grenzen – und duldet keine neuen. Sie tritt beim Karneval in Rio auf, erfindet Instrumente wie den Zimbelbaum und inszeniert ihre Auftritte mit Eisnebel und dramatischer Beleuchtung wie für einen Hitchcock-Streifen. „Wenn ich auftrete, sage ich meinem Publikum einfach: Hier ist, was ich geben kann. Öffne deinen Geist und nimm es an, wie es richtig für dich ist.“ Der Glennie-Sound, eine unnachahmliche Mischung aus virtuosem Groove und schamanischer Kraft, ist geboren.
Als es Abend ist, geht Glennie vor ihr Haus und bleibt an einem Fahrrad stehen, das an der Hauswand lehnt. Am Lenker hängt eine Plastiktröte, lachend drückt sie drauf. Eine quäkende Fanfare zum Abschied. Das Land ist still. An diesem Nachmittag saß sie manchmal nur da, tatenlos, ihre Hände auf den Beinen. „Stille“, sagte sie einmal, „ist vielleicht der stärkste Sound, den es gibt.“ • XNiP: R9XF