Jugendrichter Olof Masch hat es mehrheitlich mit jungen Straftätern aus der ehemaligen Sowjetunion zu tun – weil sie keine Perspektive haben, glaubt er
(aus Hinz&Kunzt 158/April 2006)
Junge Spätaussiedler begehen nicht häufiger Straftaten als andere Jugendliche. Das ist das Ergebnis einer Hamburger Polizei-Studie, die diesen Monat vorgestellt werden soll. Der Bergedorfer Jugendrichter Olof Masch erlebt tagtäglich das Gegenteil – und will den Jugendlichen helfen.
Wenn es schnell gehen muss, kommt der Richter schon mal selbst vorbei und bringt die Zeugenvorladung persönlich. In den Hochhaus-siedlungen von Nettelnburg und Lohbrügge kennt Olof Masch sich inzwischen aus. Die meisten Jugendlichen, deren Akten er auf dem Tisch hat, leben hier und in Neu-Allermöhe. Anfangs war er „irritiert“, weil er auf der Straße nur Russisch gehört hat. Mit den Jungs, die in Cliquen am Bahnhof abhängen, rauchen, trinken und mit viel männlichem Gehabe leere Dosen durch die Gegend treten, hat er kein Problem: „Ich sehe Jugendliche und Kinder, aber nicht in jedem Kind einen Straftäter. Das gilt auch für Aussiedler.“ Die überwiegende Mehrheit sei nicht kriminell.
Aber dennoch: In nahezu jeder zweiten Verhandlung sitzt Masch ein junger Russe mit deutschem Pass gegenüber. Seit zwei Jahren ist er Jugendrichter im Bezirk Bergedorf. Seitdem führt er seine eigene, kleine Statistik. Er sortiert die Akten nach dem Geburtsort der Jugendlichen. 125 Fälle hat er im ersten Halbjahr 2005 verhandelt. Zwei Drittel der jugendlichen Straftäter sind im Ausland geboren, nahezu die Hälfte in der ehemaligen Sowjetunion. Und bei den im Ausland geborenen zählte Masch dreimal mehr schwere Delikte als bei den in Deutschland geborenen, insgesamt 32 Fälle. Darunter schwere Körperverletzungen; Menschen zusammentreten und nicht aufhören, wenn sie am Boden liegen. „Tritte auf den Kopf sind Standard“, so Maschs Erfahrung.
Er hat sich viel anhören müssen wegen seiner Statistik. Er wolle den Stadtteil schlecht machen, Aussiedler pauschal verurteilen. Dagegen wehrt sich Olof Masch. Die Zahlen zeigten, Migranten würden öfter straffällig. „Und daraus ziehe ich den Schluss: Es fehlt an Integration“, erklärt Masch. „Sobald sie dazugehören, werden sie nicht mehr stärker auffallen als alle anderen auch. Integrationsmaßnahmen gegen Jugendkriminalität – das ist der absolute Königsweg.“ Die Eltern bekommt Olof Masch selten zu Gesicht. Sogar 14-Jährige kommen meist allein.
Masch ist aktiv geworden. Er will, dass in Bergedorf Sprachkurse speziell für junge Straftäter eingerichtet werden. Er ist „rumgereist wie blöde“, um die Finanzierung über Spenden sicherzustellen. Einen Träger zu finden, der den Unterricht gestaltet, und Räume, in denen die Jugendlichen täglich vier Stunden Deutsch lernen sollen. Alles ist organisiert, trotzdem steht das Projekt auf der Kippe. Viele derjenigen, die er „gern zu einem Sprachkurs verdonnern“ würde, leben von Arbeitslosengeld II.
Sie müssen, so steht es im Gesetz, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wer Deutsch lernt, tut das nicht, und deshalb, so sieht es zurzeit aus, zieht die Arbeitsagentur nicht mit. Das Problem jedoch ist: Der Arbeitsmarkt will sie nicht; junge vorbestrafte Männer, die kaum Deutsch sprechen und meist keinen Schulabschluss haben. Aber ohne Deutsch finden sie keine Arbeit, keine Ausbildung, keine Zukunft. Haben keine Aussicht, dass sich in ihrem Leben etwas ändert. Keinen Anreiz, nicht mehr loszuschlagen, nicht mehr einzubrechen.
Wohlwollend und konsequent will Olof Masch als Jugendrichter sein. Im Bezirk Bergedorf werden pro Jahr rund 500 Jugendliche angeklagt. In mehr als der Hälfte aller Fälle sind es Bagatell-Delikte: kleiner Ladendiebstahl, Kiffen, Beleidigung und immer wieder Schwarzfahren. „Die seh’ ich alle nur einmal.“ Das Gerichtsgebäude, der gewaltige rote Backsteinbau, der Richter in Robe, ein ermahnendes Gespräch und sehr lebensnahe, praktische Auflagen genügen in den meisten Fällen. Schwarzfahrer etwa müssen Masch persönlich ihre Monatskarte vorzeigen. „Bis hinters Komma will ich meine Auflagen erfüllt haben“, sagt er. Trotz aller Ruhe und Freundlichkeit glaubt man ihm sofort, dass es niemandem gelingt, sich aus seinem Verfahren herauszumogeln.
Er betont auch, ehrlich und verbindlich zu sein. Er bestraft – „das ist Teil der Erziehung“ – und lobt; er nehme die Jugendlichen ernst und höre ihnen zu. Das ist keinesfalls normal. Zu Hause erleben die Jugendlichen es oft anders. Die Eltern bekommt Olof Masch selten zu Gesicht. Sogar die 14-Jährigen würden mehrheitlich allein kommen. Dabei schickt Masch auch den Eltern eine Vorladung. Doch viele interessiert es offenbar nicht, ob ihre Kinder vor Gericht stehen und welche Mitschuld sie an deren krimineller Laufbahn tragen.
„Straftäter fallen nicht vom Himmel, sie haben ihre Lebensgeschichte, und bevor sie zu Tätern wurden, waren viele Opfer“, sagt Masch. Kinder und Jugendliche werden gewalttätig, weil sie selbst Gewalt erlebt haben: streitende Eltern, Väter, die ihre Frauen und Kinder prügeln, bis sie seelische Krüppel sind und um sich schlagen. Zunehmend würden junge Menschen vor ihm stehen, die an der Grenze zur Jugendpsychiatrie stünden. Diagnose: Störung im Sozialverhalten. „Völlig hilflos“ steht Olof Masch ihnen gegenüber: „Denen ist im Leben nichts Gutes widerfahren“, sagt er.
Olof Maschs Terminkalender ist voll. Er sitzt in Schulkonferenzen, er besucht die Häuser der Jugend im Bezirk, hält Kontakt zum Kinder- und Familienhilfezentrum, geht bei der Polizei ein und aus. Er will ein Netzwerk aufbauen, das lückenlos funktioniert und jugendliche Straftäter so eng begleitet, dass sie künftig straffrei bleiben, zur Schule gehen, lernen, dass sich ihnen langsam Perspektiven erschließen: eine Ausbildung, ein Job, selbstverdientes Geld, ein Führerschein, ein Auto, ein Leben jenseits der Kriminalität. Und Masch will, dass sich die Justiz so früh wie möglich auch um auffällige Kinder kümmert. Auf dem Tisch liegt ein Zettel mit 18 Namen von Jugendlichen, die als Bande in Serie eingebrochen haben. Darunter auch vier Jungs, die jünger als 14 Jahre und damit nicht strafmündig sind. Als Jugendrichter kann Masch nichts tun. „Völlig idiotisch!“ Masch regt sich auf. Die Lösung scheint ihm so simpel. 15 Jahre war er Familienrichter, und natürlich müsse der sofort aktiv werden und das Jugendamt einschalten. Familien- und Jugendrichter müssten Hand in Hand arbeiten. Dann erübrige sich alles Gerede um die Herabsetzung der Strafmündigkeit. Das er genauso „blödsinnig und populistisch“ findet wie alle Versuche, das Jugendstrafrecht zu verschärfen.
Lara Louwien
Wie kriminell sind Aussiedler wirklich?
Nach einer neuen internen Auswertung der Hamburger Polizei sind die Kriminalitätsraten von Aussiedlern und Deutschen fast gleich. Das gelte auch für Jugendliche. Für das „Lagebild Spätaussiedler“ hat das Landeskriminalamt 1091 Delikte von 914 Tatverdächtigen ausgewertet, die aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien stammen. Insgesamt zählen laut Polizei 67.000 Menschen in Hamburg zu den Spätaussiedlern, das sind 3,9 Prozent.
Laut Polizei-Studie haben zwischen Juli 2004 und Ende Juni 2005 von 100.000 Deutschen in Hamburg 3670 eine Straftat begangen. Bei den Aussiedlern waren es hochgerechnet 3356, also sogar etwas weniger. Allerdings ist das Ergebnis der Analyse bei den schweren Gewaltdelikten etwas anders: Von rechnerisch 100.000 Aussiedlern begingen 1163 schwere Verbrechen. Dem stehen 922 Deutsche gegenüber. Bei Diebstahlsdelikten ermittelte die Polizei gegen 952 Deutsche und 1500 Aussiedler unter 100.000.
Scharf kritisiert wird die Studie vom Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer. Er bezweifelt, dass es überhaupt verlässliche Zahlen über die Gesamtzahl von Spätaussiedlern gibt, und hält die Studie für „problematisch“. Sein Institut hatte stets eine überproportionale Gewaltbereitschaft unter jugendlichen Spätaussiedlern festgestellt. Hintergrund des wissenschaftlichen Streits: In Polizeistatistiken werden Aussiedler normalerweise nicht gesondert geführt, da sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und damit formal als Deutsche gelten, selbst wenn sie kaum Deutsch sprechen.
Auch der Bergedorfer Jugendrichter Olof Masch bewertete die Polizei-Studie skeptisch. Bei den Fällen, die er bearbeite, seien 44 Prozent der angeklagten Jugendlichen Spätaussiedler.
Gegenüber Hinz&Kunzt räumte Polizeisprecher Ralf Meyer ein: „Zur Gewaltbereitschaft der jungen Aussiedler macht die Studie keine Aussage. Und die Erkenntnisse von Richter Masch können von hier aus nicht seriös beurteilt werden. Sie beziehen sich jedoch nur auf Bergedorf. Dort sind Spätaussiedler in der Bevölkerung deutlich überrepräsentiert. Die Zahlen lassen sich daher nicht vergleichen.“
Zu ähnlichen Ergebnissen wie das Hamburger Polizei-Lagebild kamen auch schon Städte wie Wolfsburg und Hannover. Auch die Uni Jena hatte sich nach einer Studie im Jahr 2000 gegen eine pauschale Diskriminierung junger Aussiedler gewandt. Nur die, die nach einer Übergangsphase immer noch nicht ihre Sprachprobleme überwanden, keinen Kontakt zu gleichaltrigen Deutschen fanden und keinen Rückhalt in der Familie hatten, seien eine Risikogruppe. Das Bild in der Bevölkerung sei geprägt von Jugendlichen, die Wodka auf der Straße trinken und lautstark Russisch redend herumlungern. Diese Jugendlichen seien häufig gegen ihren Willen nach Deutschland umgesiedelt und von ihren Eltern mit unrealistischen Versprechungen gelockt worden.
Die Jenaer Psychologen, die 220 Jugendliche über zwei Jahre befragt hatten, kamen aber zu einer ähnlichen Prognose wie Richter Masch: Wichtigster Schritt sei die Überwindung der Sprachbarriere. Wer außen vor bleibe, rutsche ab und versuche den Misserfolg durch Drogen und Gewalt zu kompensieren.
Die Folgerung aus der Polizei-Studie, die Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) zieht, es sei doch alles in Ordnung, die jungen Aussiedler seien integriert, ist daher zu simpel. Denn aus auffälligen Kindern und Jugendlichen, die „nur“ rumpöbeln und Wodka trinken, sollten gar keine straffälligen werden. Und genau das sagt auch Richter Masch: „Wir müssen uns kümmern.“