Der ambulante Pflegedienst „Pflegezeit“ besucht psychisch kranke Menschen
in ihren Wohnungen. Ohne fremde Hilfe würden sie auf der Straße landen
(aus Hinz&Kunzt 194/April 2009)
„Bomben und Granatendonner!“, Herr C. fuchtelt wild mit den Armen, fährt sich einmal durch die zerstrubbelten, grauen Haare, dann lässt er sich schwer in einen Sessel fallen. Er ist 83 Jahre alt, groß und sehr kräftig, er hat Krieg und Kriegsgefangenschaften miterlebt, aber über sein Leben erzählen, das will er nicht mehr.
„Pflegedienst? Alles gut!“, brüllt er: „Keine Beschwerden!“ Herr C. ist taub: „Seit zehn Jahren – einfach weg! Über Nacht!“ Und was macht der Pflegedienst, der einmal morgens und einmal abends zu ihm kommt? „Aufräumen und einkaufen!“ Noch etwas? „Tabletten!“ Hat er Kontakt zu seinen Nachbarn? „Nur ‚guten Tag‘ und ‚auf Wiedersehen‘.“ Er schüttelt energisch den Kopf: Nein, er geht kaum noch vor die Tür. „Mal fernsehen, sonst lesen!“ Und was liest er so? „Goethe und Schiller!“, donnert Herr C. Dann schweigt er wieder. Ein graumelierter, mit einem Muster durchzogener Pullover spannt sich über seinen Bauch. Ansonsten ist er nackt.
„Das ist so bei ihm, so wie er auch am liebsten im Bett liegt, und wir haben kein Recht, ihm das zu verwehren“, sagt Ekhard Popp, Inhaber und Geschäftsführer des ambulanten Pflegedienstes „Pflegezeit-Hamburg“, der Herrn C. versorgt: „Wenn es uns und andere ambulante Pflegedienste nicht gäbe, die sich um diese Menschen kümmern und sie auch mit ihren Besonderheiten respektieren, dann gäbe es in einer Stadt wie Hamburg noch weit mehr, die einfach irgendwo mitten auf der Straße liegen würden; dann hätten wir hier amerikanische Verhältnisse.“
Er hebt die Arme, legt die Fingerspitzen aneinander, formt so eine Pyramide: „Ganz oben sind die wenigen, die sich in einem Krankheits- oder Pflegefall einfach alles leisten können. Dann kommen die, die die Mittel haben, um eine meist osteuropäische Pflegekraft zu beschäftigen. Es folgen die, die sich an der notwendigen Pflege immerhin finanziell beteiligen können und ja auch müssen. Und
unten bleiben die übrig, die keine eigenen Mittel haben; auch weil sie in ihrem Leben oft kaum oder nur selten
länger gearbeitet haben – und für die springt dann der
Staat ein, also wir.“ Ekhard Popp nimmt die Fingerspitzen wieder auseinander: „Wir sind für alle diese Menschen gleich gerne da – ganz egal, ob oben oder unten – das gilt für alle unsere Mitarbeiter.“
So wie bei Frau R.: Sie wuchs im Rheinland auf, machte das Abitur, kam zum Studieren nach Hamburg, Geschichte und Orientalistik. Dann brach in ihr und um sie herum alles zusammen. In der Psychiatrie war sie nicht nur einmal und jeweils nicht nur kurz. Längst hat sie das 50. Lebensjahr überschritten: „Ich weiß“, sagt sie und versucht ein Lächeln. „Ich sehe viel älter aus, als ich bin.“ Ihre Füße
stecken in zwei zu großen, weißen, etwas abgeschabten Pumps. Unruhig schlenkert sie die hin und her: „Mein Problem ist, dass ich so gerne viele Sachen um mich habe; nicht nur eine Lieblingshose, sondern gleich drei oder vier. Ich habe gern einen größeren Vorrat.“ Und sie zeigt ein
wenig verlegen auf die vielen Kleiderstapel, die sich links und rechts und vor und hinter ihr auf Stühlen, Sesseln oder auf dem Boden türmen.
Es sind nicht nur Jacken, Blusen, Röcke, Strümpfe, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften und Bücher und Geschirr und Besteck und volle Aschenbecher und was es sonst noch gibt, das eben Platz braucht, wenn es in Mengen vorhanden ist. In den vergangenen Monaten hatte sie den Pflegedienst jedoch abgelehnt, denn sie hatte einen obdachlosen Italiener bei sich aufgenommen, der als Gegenleistung für Ordnung sorgte, putzte, räumte, wenn er auch – wie Frau R. anmerken muss – in letzter Zeit in seinem Elan etwas nachließ. Nun aber ist der Italiener nach Italien gefahren, nach Sizilien. Vielleicht kommt er zurück, vielleicht auch nicht, und sie zieht ein Automatenfoto heraus, sagt schelmisch: „Ein schöner Mann, ein echter Mafiosi.“ Jedenfalls springt jetzt der Pflegedienst wieder bei ihr ein, das hat sie mit ihrer Betreuerin und auch mit Herrn Popp so besprochen, sie ist froh darüber. Denn seit damals, als der Pflegedienst das erste Mal kam, nach dem Wohnungsbrand im August 1989 und sie, ehrlich gesagt, mit der Renovierung der Wohnung mehr als überfordert war, hat es immer gut geklappt. Hauptsache, es ist stets dieselbe Person die kommt, nicht ständig jemand Neues, und man versteht sich und kann auch mal ein persönliches Wort wechseln. Frau R. streichelt ihre Katze, die über die Kleiderberge zu ihr auf den Schoß gehüpft ist.
„Wir erfahren selten, was genau mit unseren Kunden passiert ist, wenn wir sie bekommen, meist vom sozial-psychiatrischen Dienst oder vom Sozialamt vermittelt“, sagt Ekhard Popp: „Es hat sie etwas aus der Bahn geworfen, sie haben danach nicht mehr die Kurve gekriegt. Oder sie sind eines Tages krank geworden, sie sind krank geblieben; einige sind seit Jahrzehnten psychisch erkrankt, und das wird sich auch nicht mehr ändern.“
Das gilt etwa für Herrn K.: „Herrn K. muss man ganz klar sagen: Jetzt bitte duschen – jetzt bitte anziehen – jetzt die Tablette nehmen, und dass er um 15 Uhr bei uns im Büro ist, um wieder Medikamente einzunehmen. Er für sich würde das sonst nicht tun“, sagt Ekhard Popp. Herr K. hört Stimmen und ist bedingt durch die dämpfenden Medikamente nur schwer zu verstehen: Tonlos reihen sich bei ihm die Worte aneinander. „Dabei ist Kommunikation alles“, sagt der Pflegechef: „Ansprache, nachfragen, Zeit haben, sich etwas erzählen lassen – das heilt durchaus ein Stück.“
Und spätestens jetzt verwischen die Grenzen der Pflege und der Hilfe zum Haushalt, für die der Pflegedienst jeweils zuständig ist, was aber aus unterschiedlichen Töpfen bezahlt wird: Wo hört die Hilfe zum Haushalt auf, wo fängt Pflege an? Ekhard Popp muss nicht lange nachdenken, um ein Beispiel zu finden: „Für Herrn C. haben wir über die für ihn bewilligte Pflegestufe eine sogenannte Badehilfe bekommen – also Pflege. Doch Herr C. lässt sich nun mal partout nicht waschen. Was sollen wir also damit? Diese Zeit müssten unsere Pflegekräfte dem Zeitbudget dazuschlagen können, das sie für die Reinigung seiner Wohnung zur Verfügung haben, was also nicht Pflege ist, sondern Haushaltshilfe.“ Umgekehrt kann die Begleitung bei einem Arztbesuch oft nicht abgerechnet werden – wie er bei Frau R. nötig wird, die neue Zähne braucht und irgendwie den Weg zu einem Zahnarzt nicht findet. Ekhard Popp nickt kräftig: „Und wer macht das dann, wenn nicht wir? Wer achtet darauf, ob die Leute ihre Medikamente auch tatsächlich regelmäßig einnehmen? Wer fragt beim Hausarzt zwischendurch mal nach, ob sie sich ihre Depotspritzen auch geben lassen und nicht eines Tages aus der Spur geraten?“ Also wird die Arbeit gemacht und nicht immer bezahlt; das ist dann Service.
„Diese Menschen“, sagt Ekhard Popp, „sind im Alter, manchmal auch in der Mitte ihres Lebens, allein und eben sehr, sehr einsam. Der Einzige, der regelmäßig zu ihnen kommt, ist der ambulante Pflegedienst. Und da ist es nicht nur menschlich schwer, auf die Uhr zu gucken und zu sagen: ‚So – die bewilligten 60 Minuten Haushaltshilfe sind jetzt um, Küche und Bad wieder sauber.‘ Wir bräuchten für diese Kunden zusätzliche Zeit, um ihnen zu helfen, einen geregelten Alltag zu gestalten.“
Gut also, dass sie für Herrn K. immer wieder kleine Aufgaben finden, ihn einbinden, wie heute, wo er im Büro des Pflegedienstes sitzt und akribisch Aktendeckel für Aktendeckel zurechtschneidet.
Doch dann ist der letzte Bogen geschafft: Herr K. springt auf, greift seine Jacke, ab durch die Tür ist er, wieder unterwegs, die Fußgängerzone hoch, die Fußgängerzone runter, seltsam getrieben. Nachher kommt er wieder, Punkt 15 Uhr, auch auf einen Kaffee. „Bis später!“, ruft ihm eine der Mitarbeiterinnen nach, sie sieht auf den Boden neben dem Papierkorb, er ist mit Schnipseln übersät. „Ach, der Herr K.“, sagt sie mehr für sich und lächelt kurz. Dann bückt sie sich und sammelt die Schnipsel ein.